Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Afrikas geschwächte Abwehrkräfte
Das Coronavirus könnte zwischen Kairo und Kapstadt zu einer humanitären und wirtschaftlichen Katastrophe führen.
MOGADISCHU „Wie geht es Dir? Hast Du schon Wehen?“, fragt Farhiya Saney im Krankenhaus der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer ihre Patientin Sahra Abukar Abdi. Die bevorstehende Geburt in der somalischen Hauptstadt Mogadischu bereitet der erfahrenen Frauenärztin keine Sorgen. Die 20-jährige Abdi hat bereits drei Kinder zur Welt gebracht, alle Geburten verliefen ohne Komplikationen. Angst hat die somalische Medizinerin, die ihre Patientinnen ohne Schutzhandschuhe behandelt, vor etwas anderem: Corona.
Auch wenn verlässliche Daten fehlen, haben sich mittlerweile vermutlich in allen 55 afrikanischen Staaten schon Zehntausende Menschen infiziert, Hunderte sind bereits an der Lungenkrankheit gestorben. Mit seinen schwachen Gesundheitssystemen, schlechten sanitären und hygienischen Bedingungen, dichtbesiedelten Städten und Slums und weitverbreiteter Armut könnte die Pandemie für den Kontinent zur Katastrophe werden. Ärzte, Pfleger und Politiker befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit.
„Ich habe Angst, dass mir irgendwann das Personal davonläuft, denn wir können unsere eigenen Leute nur notdürftig schützen und schlecht bezahlen. Trotzdem sind sie uneingeschränkt für ihre Patienten da und retten Menschenleben, auch wenn sie dafür ihr eigenes Leben riskieren“, sagt Mohamed Dakane, medizinischer Leiter des Krankenhauses in Mogadischu.
„Wir weisen niemanden ab und haben in unseren Einrichtungen Isolationsräume eingerichtet, in denen wir Verdachtsfälle unterbringen können, bevor wir sie an die nationale Isolationsstation am schwer gesicherten Flughafen in Mogadischu überweisen können“, sagt Deqa Dimbil. Die 34-jährige somalische Allgemeinmedizinerin koordiniert die SOS-Nothilfe in ganz Somalia. Dass sie aufgrund von Versorgungsengpässen bald wahrscheinlich sogar einfache Gesichtsmasken und Handschuhe für ihr Personal rationieren muss, bereitet ihr große Sorgen. Aber Angst? Deqa Dimbil lacht. „Wir sind Somalis. Wir leben seit fast 30 Jahren mit Bürgerkrieg und Katastrophen. Uns macht so schnell nichts mehr Angst. Wir halten viel aus.“
Dann wird sie plötzlich sehr ernst. Sollte es in Somalia zu einem größeren Corona-Ausbruch kommen, hätte dies katastrophale Folgen. „Wir sind darauf absolut nicht vorbereitet. Corona führt selbst in hochentwickelten Ländern wie Italien und den USA zu Tausenden Toten. Dort gibt es High-Tech-Medizin. Aber wir wissen nicht mal, ob und wenn ja, wie viele Beatmungsgeräte es in Somalia gibt“, sagt die Ärztin.
Nicht nur die mangelnde medizinische Versorgung, auch die vielen Gerüchte und Fake News, die im Bürgerkriegsland kursieren, bereiten der Medizinerin Sorgen. „Viele Somalis glauben, dass nur Chinesen, Ungläubige oder Menschen, die seltsame Dinge wie Fledermäuse essen, infiziert werden können. Präventivmaßnahmen werden deshalb teilweise nicht umgesetzt“, berichtet die Ärztin.
Hoffnung macht der somalischen Ärztin, dass fast alle ihrer Landsleute strenggläubige Muslime sind. „Sie beten fünfmal täglich und waschen sich – wenn möglich – vor jedem Gebet die Hände“, sagt die Ärztin. Allerdings ist der Zugang zu Wasser und Seife vor allem in ländlichen Gebieten oft nicht gegeben.
Noch mehr als das Virus selbst fürchtet die Medizinerin, dass aufgrund von Importbeschränkungen die Lebensmittelpreise in Somalia explodieren könnten. „Wenn es dazu kommt, haben wir hier Aufstände und Chaos. Die Virustoten werden dann unsere kleinste Sorge sein“, sagt die Ärztin.
Nicht nur im extrem armen Somalia, in dem nach Schätzungen des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA gerade mal ein Arzt auf 50.000 Menschen kommt, könnte die Pandemie verheerende Folgen haben. „Leider müssen wir befürchten, dass Covid-19 in vielen afrikanischen Staaten mit teilweise sehr geringen Behandlungskapazitäten extrem schwerwiegende Folgen haben wird“, sagt Anna Kuehne, Ärztin und epidemiologische Beraterin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
Zwar haben viele afrikanische Staaten unter dem Eindruck der verheerenden Ebola-Epidemie von 2014 und dem Corona-Ausbruch in China, Europa und den USA bereits weitreichende Ausgangssperren verhängt und Grenzen, Flughäfen und Schulen geschlossen. Doch vor allem in Kriegsregionen, in denen die medizinische Versorgung teilweise bereits seit Jahrzehnten weitestgehend zusammengebrochen ist und Hunderttausende Menschen auf der Flucht sind, sowie in extrem dicht besiedelten Flüchtlingslagern und Armenvierteln in afrikanischen Metropolen wie Lagos (Nigeria) oder Nairobi (Kenia) könnte die Krankheit sich weitgehend ungehindert ausbreiten. Zudem macht der Expertin, der oft schlechte Gesundheitszustand
vieler Menschen in Afrika Sorgen. Mangel- und Unterernährung, Tuberkulose, HIV, Cholera, Malaria und andere Krankheiten schwächen die Immunsysteme vieler Afrikaner. „Bislang liegen keine Studien vor, welche Auswirkungen diese Vorerkrankungen auf Covid-19 haben, aber es ist davon auszugehen, dass sie den Krankheitsverlauf erschweren, auch wenn das Durchschnittsalter in Afrika deutlich niedriger als in Europa ist“, sagt die Epidemiologin.
Derzeit bemühe man sich, die reguläre Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. „Schon bald könnte es zu Versorgungsengpässen bei dringend benötigten Medikamenten kommen. Das kann Menschenleben kosten“, befürchtet die Ärztin. Die Corona-Krise könnte so in den letzten Jahren erreichte Fortschritte unter anderem beim Kampf gegen Malaria und Tuberkulose zunichte machen.
Schon jetzt ist klar, dass Covid-19 den Kontinent auch wirtschaftlich weit zurückwerfen wird. „Für ölund rohstoffexportierende Volkwirtschaften wie Nigeria oder Äthiopien aber auch für alle anderen afrikanischen Staaten wird die Krise massive wirtschaftliche Folgen haben, die jahrelang nachwirken und Entwicklungsfortschritte der letzten Jahre auffressen werden“, befürchtet Annette Weber, Afrika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Für Millionen afrikanische Tagelöhner, Kleinunternehmer und Angestellte, die unter anderem auf Grund von Ausgangssperren, ruhenden Baustellen, stillgelegten Fabriken und leeren Hotels und Restaurants Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten verloren haben, ist die Pandemie bereits jetzt zur existenzbedrohenden Krise geworden. Für viele von ihnen kommen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie damit einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod gleich. „In Afrika gibt es kaum staatliche soziale Sicherungssysteme. Wer seine Arbeit verliert, rutscht meist sofort in die Armut ab, hat im schlimmsten Fall nichts mehr zu essen“, sagt Weber. In vielen Staaten drohten deshalb Plünderungen von Märkten, ein Anstieg von Kriminalität, soziale Unruhen und bewaffneten Konflikte.
So haben die islamistischen Terrororganisationen Boko Haram in Nigeria und Al Shabaab in Somalia ihre Angriffe auf Sicherheitskräfte zuletzt deutlich verstärkt. „Einerseits nutzen sie die den durch Lockdowns geschaffenen erweiterten Bewegungsspielraum aus. Andererseits wollen sie der Bevölkerung zeigen, dass sie sich bei der Bekämpfung der Pandemie nicht auf den schwachen und verwundbaren Staat verlassen können“, so Annette Weber. In anderen Konfliktregionen wie dem Dafur im Sudan haben sich die Konfliktparteien hingegen wegen der Pandemie auf einen bislang weitestgehend eingehaltenen Waffenstillstand geeinigt.
Nach Schätzungen der Uno benötigt Afrika ein Hilfsprogramm von mindestens 100 Milliarden Dollar, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie einigermaßen abzufedern. Da afrikanische Regierungen dazu alleine nicht in der Lage sind, sieht Weber jetzt auch die internationale Gemeinschaft in der Pflicht. „Auch wenn alle Länder gerade genug eigene Corona-Probleme haben, muss Afrika unter anderem durch Entschuldung entlastet werden. Wir müssen jetzt langfristig und multilateral denken. Wir leben in einer globalisierten Welt. Lassen wir Afrika jetzt im Stich, werden die langfristigen Auswirkungen, Folgen und Kosten auch für uns erheblich sein.“