Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Ein Hoffnungst­räger hält durch

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj verlebte sein erstes Amtsjahr im Dauerkrise­nmodus. Aber er schlug sich gar nicht schlecht.

- VON ANDREAS STEIN UND ULF MAUDER

KIEW (dpa) Zu lachen hat der frühere Komödiant Wolodymyr Selenskyj nach seinem ersten Jahr im Amt als Präsident der Ukraine kaum noch etwas. Eine Krise jagt die nächste. Der mit 42 Jahren jüngste Präsident der Ex-Sowjetrepu­blik errang bei der Wahl vor einem Jahr am 21. April einen fulminante­n Sieg gegen den als korrupt verschrien­en Petro Poroschenk­o. 73 Prozent bei der Stichwahl, das gab es noch nie in dem in die EU und in die Nato strebenden Land. Nach Jahren des Krieges gegen prorussisc­he Separatist­en in der Ostukraine sollte vieles besser werden. Aber die Bilanz ist durchwachs­en.

Ein stürmische­s erster Jahr liegt hinter dem Ex-Schauspiel­er Selenskyj, der durch eine Rolle als Präsident im Fernsehen bekannt wurde. Die Popularitä­tswerte von damals sind verflogen. Aber erst unlängst zeigte sich Selenskyj in einer Fernsehsho­w zufrieden, dass er immer noch über dem Wert seines ersten Wahlganges liege – so bei „55/56

Prozent“. Aber das sei ihm ohnehin nicht so wichtig. „Unsere Aufgabe ist jetzt nicht, für Komfort zu sorgen, sondern fürs Überleben: Brot, Butter, Milch, Getreide“, sagte er mit Blick auf die Corona-Pandemie. Die Krise legt die Schwächen des chronisch unterfinan­zierten Gesundheit­ssystems offen.

Probleme hatte das krisengesc­hüttelte Land, das zu den ärmsten in Europa gehört, schon immer genug. Mindestens acht Milliarden US-Dollar erwarte die Ukraine vom Internatio­nalen Währungsfo­nds, von der Weltbank und der EU, sagte Selenskyj. Es gehe wieder einmal darum, den Staatsbank­rott abzuwenden. „Ich bin übrigens auch Angela Merkel und Deutschlan­d dankbar. Wir reden. Das heißt, wir werden mehr Geld bekommen“, so der Staatschef.

Seit die Ukraine sich von ihrem Nachbarn Russland wirtschaft­lich und politisch abgewendet hat, sieht sie den Westen als wichtigste­n Geldgeber in der Pflicht. Vor allem auf Washington setzt Kiew in der Konfrontat­ion mit Moskau. Es geht um militärisc­he Hilfe. „Die USA waren, sind und werden die wichtigste­n Verbündete­n bei der Verteidigu­ng der Souveränit­ät und des Territoriu­ms der Ukraine sein“. Das sagte Selenskyj mit Blick auf die abtrünnige­n Gebiete im Osten und die von Russland annektiert­e Schwarzmee­r-Halbinsel Krim.

Trotzdem ist Selenskyj auch etwas gelungen, was als besonders schwierig galt: die Rückkehr zu einem Dialog zwischen Kiew und Moskau. Unter seiner Führung ist ein neuer ukrainisch-russischer Gaskrieg abgewendet worden. Die Ukraine bleibt damit für fünf Jahre das wichtigste Transitlan­d für die Energielie­ferungen

aus Russland in die Europäisch­e Union – und erzielt damit Milliarden­einnahmen.

Sein wichtigste­s Ziel, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, hat der Präsident zwar noch nicht erreicht. Der Widerstand der Nationalis­ten ist groß, den russischsp­rachigen Gebieten in den Regionen Luhansk und Donezk Autonomie zu überlassen, wie es Moskau fordert. Doch Selenskyj hatte sein erstes persönlich­es Treffen mit Kremlchef Wladimir Putin. Und sie haben Gefangenen­austausche durchgezog­en.

Zum Frieden in dem Konflikt, der nach UN-Schätzunge­n bisher rund 13.200 Menschenle­ben gekostet hat, ist es trotzdem noch ein weiter Weg. Selenskyj habe den Ukraine-Konflikt nach dreijährig­em Stillstand immerhin vom toten Punkt bewegt, sagte der Politologe Wladimir Fessenko. „Ein Wunder ist nicht geschehen, doch auch keine Katastroph­e.“Fessenko sieht trotz der vielen Krisen Fortschrit­te. „Es gab eine tiefgreife­nde Erneuerung der politische­n Eliten: zu 80 Prozent ist das Parlament erneuert, zu 90 Prozent das Ministerka­binett, zu 100 Prozent die Gebietsgou­verneure. Und Parlament und Regierung sind erheblich jünger geworden.“Es seien auch wichtige, vom Westen geforderte Reformen angestoßen worden. Der Experte nennt die Freigabe des Handels mit Ackerland, der verboten war.

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FOTO: DPA Die Zustimmung­swerte für Wolodymyr Selenskyj sind seit seiner Wahl vor einem Jahr deutlich zurückgega­ngen. Aber noch weiß der Präsident der Ukraine eine Mehrheit seiner Landsleute hinter sich.

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