Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Erstes Geisterspiel der Parteiengeschichte
Die Grünen haben einen Parteitag digital abgehalten: keine Umarmung, kein Applaus, keine Emotionen.
BERLIN Vor Annalena Baerbock sitzen keine 200 Delegierten, noch nicht einmal 20. Vor der Grünen-Co-Vorsitzenden steht lediglich eine Kamera, das Mikrofon mit einer Schutzfolie abgeklebt. Baerbock geht gleich in das erste Geisterspiel der deutschen Parteiengeschichte. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner hat vorher noch gesagt, normalerweise seien Grünen-Parteitage wie Familientreffen. Doch Corona hat auch dieses Familientreffen verändert. Keine Umarmung, keine Emotionen. Es gilt das Abstandsgebot. Erstmals hat mit den Grünen eine Partei in Deutschland ihren Parteitag digital abgehalten.
Es gibt geloste Redebeiträge wie bei Grünen-Parteitagen üblich, nur werden sie dieses Mal aus digitalen Losboxen gezogen, getrennt nach Geschlechtern. Da geht auch mal etwas durcheinander. „Ein Mann hat sich in die Frauenbox geschmissen. Das soll natürlich nicht sein“, bemerkt die Parteitagsführung. Manche haben ihre technischen Probleme. Lothar Weber vom Ortsverband Leichlingen etwa kommt nur schwer ins Spiel: „Hallo, hallo, liebe Freundinnen und Freunde, hallo, hallo…?“Als er es dann endlich von Zuhause ins Bild schafft, ist er nur von der Nasenspitze aufwärts zu sehen. „Hallo, hallo…?“
Der Kleine Parteitag debattiert über Corona und die Folgen der Pandemie. Gastredner wie der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werden zugeschaltet. Juncker spricht über „Solidaritätsbonds“zur Finanzierung der Corona-Folgen. Eine Rede ins Off. Damit müssen auch die Parteichefs Baerbock und Robert Habeck zurechtkommen, die ihre Reden in der Bundesgeschäftsstelle in Berlin als Schaltzentrale dieses digitalen Experiments halten. Auch sie halten Abstand. Klebeband am Boden bestimmt ihre jeweilige Standposition,
damit sich die zwei Vorsitzenden nicht zu nahe kommen. Baerbock: „Normalerweise passt auch zwischen Robert und mich eigentlich kein Blatt, heute sind es zwei Meter.“
Die rund 90 Delegierten dieses Länderrates sitzen Zuhause. Im Hintergrund sind Zimmerpflanzen, große Spiegel, raumhohe Bücherregale oder Kunst an der Wand zu sehen. Ein Blick in deutsche Wohnstuben verbunden mit dem Experiment der Abstimmung aus dem eigenen Wohnzimmer. Auch Winfried Kretschmann, erster Ministerpräsident mit Grünen-Parteibuch, wird zugeschaltet und appelliert an die Menschen zur Geduld: „Die Klimakrise
ist viel schwieriger zu bewältigen als Corona. Die Klimakrise kann man nicht wegimpfen.“
Grünen-Chefin Baerbock erzählt von der Freundin, die seit März ihre Mutter im Pflegeheim nicht mehr gesehen habe. Corona bringe viele Menschen an ihre Grenzen. Familien, Alte, Kinder, vor allem Frauen, die „zerrieben werden zwischen Homeoffice, Homeschooling und Homework“. Auch ihre eigenen Kinder drängten sie: „Mama, mach‘, dass das endlich aufhört!“
Umschalten zu Co-Parteichef Habeck, „live, hier aus dem Erdgeschoss der Bundesgeschäftsstelle“. Er bringt den Leitantrag ein. Problem: „Ihr seht mich, ich seh‘ Euch nicht.“Die Grünen wollen schon in diesem Jahr ein deutsches Konjunktur-Sofortprogramm von 100 Milliarden Euro. Zudem spricht sich der Länderrat für einen „Recovery Fund“in Europa von mindestens einer Billion Euro aus, der wiederum durch gemeinsame Anleihen finanziert werde. Habeck ist dann noch bei jenen jungen Menschen, die gerade „den Mai ihres Lebens opfern“– wegen Corona. Alles geschlossen, keine Feiern, kein freies Leben. Aber alles gehe auch wieder vorbei. „Wir wollen hin zum bunten Leben“, sagt Habeck. Kein Applaus. Es ist ja kein Publikum da.