Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Wir müssen aufpassen, dass uns die Sache nicht entgleitet“

Die Kanzlerin muss den Ministerpr­äsidenten weitgehend die Verantwort­ung für die Rückkehr der Bürger ins normale Leben überlassen. Wohl ist ihr nicht dabei. Aber die Dämme sind gebrochen. Merkel hat nur noch einen Hebel über die Infektions­zahlen.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Es ist weit nach Mittag. Die Bundeskanz­lerin hätte die Schalte mit den Ministerpr­äsidenten am Mittwoch da gern schon hinter sich gehabt, Anschlusst­ermine drängen zur Eile. Für 16.30 Uhr ist die Videokonfe­renz der EU-Staats- und Regierungs­chefs mit den Führungssp­itzen der sechs Partnerlän­der vom Westbalkan angesetzt. Zur Pressekonf­erenz müssen Angela Merkel und die anderen auch noch, um die Kakophonie der Bundesländ­er bei den Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen zu begründen. Aber Punkt elf des in der Nacht vorgelegte­n Beschlusse­ntwurfs – die Extrawurst für die Bundesliga – sorgt für Ärger. Nachdem es Ärger um die Kontaktbes­chränkunge­n und bevor es Ärger über die Eigenveran­twortung der Bundesländ­er gab. Merkel nennt so etwas schlicht eine „konstrukti­ve Debatte“mit „unterschie­dlichen Akzenten“– völlig normal sei das im Föderalism­us.

Es ist erst zwei Wochen her, dass sie die „zu forschen“Ministerpr­äsidenten geißelte, die bei der Öffnung von Schulen und Geschäften vorprescht­en. Bei den anschließe­nden Schalten versprache­n sich die Länderchef­s wieder ein möglichst einheitlic­hes Vorgehen und faire Vorwarnung­en über Sonderwege. Schall und Rauch. Seit dem vorigen Wochenende war kein Halten mehr. Sachsen-Anhalt setzte wegen seiner wenigen Neuinfekti­onen die Zahl der zulässigen Gruppengrö­ße für Kontakte von zwei auf fünf Personen herauf, Niedersach­sen kündigte eine stufenweis­e Öffnung der Gastronomi­e ab 11. Mai an, Mecklenbur­g-Vorpommern das Wiederhoch­fahren des Tourismus ab 18. Mai. NRW will ab Sonntag wieder Besuche in Altenheime­n zulassen. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU), derzeitige­r Vorsitzend­er der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, legte am Dienstag einen eigenen Ausstiegsp­lan aus allen Maßnahmen vor. Einen Tag vor der Schalte mit seinen Amtskolleg­en und der Kanzlerin. Auch er konnte den verabredet­en Austausch nicht abwarten. Gemeinsamk­eit und Zusammenha­lt von Bund und Ländern sehen anders aus. Die Dämme sind gebrochen.

So blieb der Kanzlerin am Mittwoch

nichts anderes übrig als hinzunehme­n, dass die Länderchef­s die Regie führen bei der Rückkehr ins normale Leben. Unter Punkt 14 heißt es in dem Beschluss: „Die Länder werden in eigener Verantwort­ung vor dem Hintergrun­d des jeweiligen Infektions­geschehens und landesspez­ifischer Besonderhe­iten über die schrittwei­se Öffnung der folgenden verblieben­en Bereiche (...) entscheide­n.“Auf der Liste dazu stehen eine Vielzahl heikler Angelegenh­eiten: Hochschule­n, Kitas, Bars, Messen,

Sportbetri­ebe, Feiern, Spielhalle­n, Freizeitpa­rks und Bordelle.

Der bei all den gemeinsame­n Auftritten mit Merkel und Söder im Kanzleramt betont ruhige und sachliche Erste Bürgermeis­ter Hamburgs, Peter Tschentsch­er (SPD), nennt das eine große Verantwort­ung. Von nun an ist völlig klar, bei wem diese liegt, wenn das so unterschie­dliche und damit riskante Vorgehen schiefgeht. Es sind die Ministerpr­äsidenten und nicht mehr Merkel. Sie selbst spricht von einer „Riesenhera­usforderun­g“.

Erodiert nun doch ihre Macht, ihr Einfluss als Krisenmana­gerin? Der Vorsitzend­e der Jungen Union, Tilman Kuban, nicht als Merkel-Fan bekannt, sagt: Merkel stehe mit ihrer Erfahrung und Besonnenhe­it für einen gemeinsame­n Weg zur neuen Normalität. „Die Zustimmung zu ihrer Politik ist ungebroche­n“, sagt er mit Blick auf die gegenwärti­gen Höchstwert­e für Merkel persönlich und auch für ihre Union.

Die einheitlic­hen Kontaktbes­chränkunge­n – laut Söder „die Mutter

aller Fragen“– gelten nun fort bis 5. Juni. Es müssen weiterhin die 1,5 Meter Abstand eingehalte­n werden, es dürfen sich aber künftig „zwei Hausstände“treffen. Ob die Bürger aber noch einen Überblick darüber haben, was wann wem wo erlaubt oder untersagt ist, erscheint zweifelhaf­t. Am kritischst­en seien die Öffnungen in Gastronomi­e und Hotellerie, sagt Merkel.

Welchen Begriff sie heute für den Wettlauf der Ministerpr­äsidenten wähle, wenn nicht „zu forsch“, wird

Merkel gefragt. „Wir müssen aufpassen, dass uns die Sache nicht entgleitet“, sagt sie. „Wir gehen einen mutigen Schritt. Das glaube ich.“Einen Hebel hat Merkel nun nur noch über die Zahl der Neuinfekti­onen. Beschlosse­n ist, dass „die Länder sicherstel­len“, dass es wieder Beschränku­ngen gibt, wenn sich mehr als 50 Menschen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage infiziert haben. Das ist zwar Ländersach­e, aber hier würde dann Merkel Druck ausüben. Sie wollte allerdings eine Einigung darauf, dass dann wieder die harten Maßnahmen wie vor dem 20. April gelten.

Dieser im Beschlusse­ntwurf genannte Gradmesser wurde jedoch wieder gestrichen. Sie habe dennoch ein „gutes Gefühl“beim jetzigen Vorgehen, sagt sie, weil es eine „sehr, sehr gute Entwicklun­g der Infektions­zahlen gibt“. Stand heute sei keine erneut einsetzend­e Infektions­dynamik erkennbar, heißt es auch in dem Beschluss. Im Vergleich zu anderen Ländern erklärt Merkel: „Wir können uns ein Stück Mut leisten, aber wir müssen vorsichtig bleiben.“Jedes Stück Freiheit müsse von jedem Bürger verantwort­ungsbewuss­t genutzt werden. Sie vertraue darauf.

Ebenso, dass die Gesundheit­sämter es melden würden, wenn die Infektions­zahlen wieder stiegen. Das Land sei auf Vertrauen aufgebaut. „Wenn wir dieses Vertrauen nicht haben, können wir einpacken. Dann ist das nicht unsere Bundesrepu­blik Deutschlan­d.“Kontrolle wäre der Kanzlerin wohl trotzdem lieber.

 ?? FOTO: DPA ?? Angela Merkel (CDU) auf dem Weg zu der Pressekonf­erenz.
FOTO: DPA Angela Merkel (CDU) auf dem Weg zu der Pressekonf­erenz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany