Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Wir müssen aufpassen, dass uns die Sache nicht entgleitet“
Die Kanzlerin muss den Ministerpräsidenten weitgehend die Verantwortung für die Rückkehr der Bürger ins normale Leben überlassen. Wohl ist ihr nicht dabei. Aber die Dämme sind gebrochen. Merkel hat nur noch einen Hebel über die Infektionszahlen.
BERLIN Es ist weit nach Mittag. Die Bundeskanzlerin hätte die Schalte mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch da gern schon hinter sich gehabt, Anschlusstermine drängen zur Eile. Für 16.30 Uhr ist die Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs mit den Führungsspitzen der sechs Partnerländer vom Westbalkan angesetzt. Zur Pressekonferenz müssen Angela Merkel und die anderen auch noch, um die Kakophonie der Bundesländer bei den Lockerungen der Corona-Maßnahmen zu begründen. Aber Punkt elf des in der Nacht vorgelegten Beschlussentwurfs – die Extrawurst für die Bundesliga – sorgt für Ärger. Nachdem es Ärger um die Kontaktbeschränkungen und bevor es Ärger über die Eigenverantwortung der Bundesländer gab. Merkel nennt so etwas schlicht eine „konstruktive Debatte“mit „unterschiedlichen Akzenten“– völlig normal sei das im Föderalismus.
Es ist erst zwei Wochen her, dass sie die „zu forschen“Ministerpräsidenten geißelte, die bei der Öffnung von Schulen und Geschäften vorpreschten. Bei den anschließenden Schalten versprachen sich die Länderchefs wieder ein möglichst einheitliches Vorgehen und faire Vorwarnungen über Sonderwege. Schall und Rauch. Seit dem vorigen Wochenende war kein Halten mehr. Sachsen-Anhalt setzte wegen seiner wenigen Neuinfektionen die Zahl der zulässigen Gruppengröße für Kontakte von zwei auf fünf Personen herauf, Niedersachsen kündigte eine stufenweise Öffnung der Gastronomie ab 11. Mai an, Mecklenburg-Vorpommern das Wiederhochfahren des Tourismus ab 18. Mai. NRW will ab Sonntag wieder Besuche in Altenheimen zulassen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), derzeitiger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, legte am Dienstag einen eigenen Ausstiegsplan aus allen Maßnahmen vor. Einen Tag vor der Schalte mit seinen Amtskollegen und der Kanzlerin. Auch er konnte den verabredeten Austausch nicht abwarten. Gemeinsamkeit und Zusammenhalt von Bund und Ländern sehen anders aus. Die Dämme sind gebrochen.
So blieb der Kanzlerin am Mittwoch
nichts anderes übrig als hinzunehmen, dass die Länderchefs die Regie führen bei der Rückkehr ins normale Leben. Unter Punkt 14 heißt es in dem Beschluss: „Die Länder werden in eigener Verantwortung vor dem Hintergrund des jeweiligen Infektionsgeschehens und landesspezifischer Besonderheiten über die schrittweise Öffnung der folgenden verbliebenen Bereiche (...) entscheiden.“Auf der Liste dazu stehen eine Vielzahl heikler Angelegenheiten: Hochschulen, Kitas, Bars, Messen,
Sportbetriebe, Feiern, Spielhallen, Freizeitparks und Bordelle.
Der bei all den gemeinsamen Auftritten mit Merkel und Söder im Kanzleramt betont ruhige und sachliche Erste Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher (SPD), nennt das eine große Verantwortung. Von nun an ist völlig klar, bei wem diese liegt, wenn das so unterschiedliche und damit riskante Vorgehen schiefgeht. Es sind die Ministerpräsidenten und nicht mehr Merkel. Sie selbst spricht von einer „Riesenherausforderung“.
Erodiert nun doch ihre Macht, ihr Einfluss als Krisenmanagerin? Der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, nicht als Merkel-Fan bekannt, sagt: Merkel stehe mit ihrer Erfahrung und Besonnenheit für einen gemeinsamen Weg zur neuen Normalität. „Die Zustimmung zu ihrer Politik ist ungebrochen“, sagt er mit Blick auf die gegenwärtigen Höchstwerte für Merkel persönlich und auch für ihre Union.
Die einheitlichen Kontaktbeschränkungen – laut Söder „die Mutter
aller Fragen“– gelten nun fort bis 5. Juni. Es müssen weiterhin die 1,5 Meter Abstand eingehalten werden, es dürfen sich aber künftig „zwei Hausstände“treffen. Ob die Bürger aber noch einen Überblick darüber haben, was wann wem wo erlaubt oder untersagt ist, erscheint zweifelhaft. Am kritischsten seien die Öffnungen in Gastronomie und Hotellerie, sagt Merkel.
Welchen Begriff sie heute für den Wettlauf der Ministerpräsidenten wähle, wenn nicht „zu forsch“, wird
Merkel gefragt. „Wir müssen aufpassen, dass uns die Sache nicht entgleitet“, sagt sie. „Wir gehen einen mutigen Schritt. Das glaube ich.“Einen Hebel hat Merkel nun nur noch über die Zahl der Neuinfektionen. Beschlossen ist, dass „die Länder sicherstellen“, dass es wieder Beschränkungen gibt, wenn sich mehr als 50 Menschen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage infiziert haben. Das ist zwar Ländersache, aber hier würde dann Merkel Druck ausüben. Sie wollte allerdings eine Einigung darauf, dass dann wieder die harten Maßnahmen wie vor dem 20. April gelten.
Dieser im Beschlussentwurf genannte Gradmesser wurde jedoch wieder gestrichen. Sie habe dennoch ein „gutes Gefühl“beim jetzigen Vorgehen, sagt sie, weil es eine „sehr, sehr gute Entwicklung der Infektionszahlen gibt“. Stand heute sei keine erneut einsetzende Infektionsdynamik erkennbar, heißt es auch in dem Beschluss. Im Vergleich zu anderen Ländern erklärt Merkel: „Wir können uns ein Stück Mut leisten, aber wir müssen vorsichtig bleiben.“Jedes Stück Freiheit müsse von jedem Bürger verantwortungsbewusst genutzt werden. Sie vertraue darauf.
Ebenso, dass die Gesundheitsämter es melden würden, wenn die Infektionszahlen wieder stiegen. Das Land sei auf Vertrauen aufgebaut. „Wenn wir dieses Vertrauen nicht haben, können wir einpacken. Dann ist das nicht unsere Bundesrepublik Deutschland.“Kontrolle wäre der Kanzlerin wohl trotzdem lieber.