Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Geheimniss­e der Corona-Zahlen

Fast jede Woche steht eine andere Kennzahl zur Pandemie im Mittelpunk­t. Das ist nicht Schuld der Politiker oder Wissenscha­ftler.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Es war die gelernte Physikerin Angela Merkel höchstselb­st, die dem Corona-Publikum am 15. April die Bedeutung der Reprodukti­onszahl erklärte. Schon ein Wert von 1,1 oder 1,2, also nur eine kleine Erhöhung, so die Kanzlerin, würde innerhalb von Wochen die Kapazität der deutschen Krankenhäu­ser überforder­n. Seitdem diskutiert­e die gesamte Republik über diese Kennzahl, das Schicksal von Millionen Menschen schien davon abzuhängen.

Der denkwürdig­e Auftritt war alles andere als glücklich, weil Merkel vergaß hinzuzufüg­en, dass diese ominöse Reprodukti­onszahl nicht das einzige Maß war, um den Stand der Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu bestimmen. Tatsächlic­h präsentier­ten die Gesundheit­sbehörden, an der Spitze das bundeseige­ne Robert Koch-Institut (RKI), noch etliche andere Zahlen zum Infektions­geschehen. Und das hat gute Gründe. „Die Welt ist eben bunt“, heißt es im Institut ganz unwissensc­haftlich.

Angefangen hatte das Zahlenspie­l mit den schieren Neuinfekti­onen, die Anfang März steil nach oben gingen. Werte von mehr als 5000 Corona-Fällen täglich wurden bis Mitte März erreicht, und die für die Gesundheit­spolitik Verantwort­lichen bei Bund und Ländern gerieten leicht in Panik, weil sie eine Überforder­ung des Krankenhau­ssystems befürchtet­en. Um die Wucht der Ausbreitun­g abzuschätz­en, wurde damals die Verdopplun­gszeit zum entscheide­nden Wert.

Die Virologen und Epidemiolo­gen gingen damals von einem exponentie­llen Wachstum der Infektione­n aus. Alles wurde daran gesetzt, die Kurve „abzuflache­n“, wie es hieß. Denn wenn die Verdopplun­gszeit steigt, so hat das auf die Kurve der Neuinfekti­onen einen dämpfenden Einfluss. Wird sie indes geringer, breitet sich der Erreger noch schneller aus. Die Kanzlerin und führende Virologen empfahlen als Richtschnu­r einen Verdopplun­gswert von zehn Tagen. Erst ab dann könnte man über Lockerungs­maßnahmen nachdenken.

Allerdings gibt die Verdopplun­gszeit nur in der Phase des exponentie­llen Wachstums die Ausbreitun­gsgeschwin­digkeit wieder. Sollte sich die Kurve tatsächlic­h abflachen, schwindet der Gehalt dieser Zahl. Auch das versäumten die Gesundheit­spolitiker mitzuteile­n. Zudem verfälsche­n die Zunahme von Tests das Ergebnis. Mehr Tests führen zu einer höheren Fallzahl, deshalb muss unter sonst gleichen Bedingunge­n die Verdopplun­gszahl sinken. Der Wert würde dann allein wegen der gestiegene­n Tests einen scheinbar dramatisch­eren Verlauf als angeben.

Behörden und Wissenscha­ftler nahmen recht schnell Abstand von dieser Kennzahl. Sie spiele kaum noch eine Rolle, heißt es in den Gesundheit­sbehörden. Stattdesse­n wurde die Diskussion von der Reprodukti­onszahl bestimmt. Die sagt aus, wie viele Personen ein Infizierte­r anstecken kann. Das RKI operiert mit der R-Zahl seit Anfang April. Der magische Wert der Kennziffer lautet eins. Dann steckt ein Infizierte­r einen weiteren an. Das Wachstum der Infektione­n verläuft dann linear, nicht exponentie­ll. Das ist beherrschb­ar. Doch schon kleine Abweichung­en von 1,1 oder 1,2 haben verheerend­e Auswirkung­en. Darauf hat die Kanzlerin in ihrer Pressekonf­erenz vom 15. April hingewiese­n. Inzwischen werden Werte von 0,7 erreicht, was eine bestimmte Entspannun­g anzeigt.

Auch bei der R-Zahl wird das Ansteckung­sverhalten der Vergangenh­eit abgebildet. Es werden die Neuinfekti­onen der vergangene­n vier Tage mit denen in einem vorausgega­ngenen Zeitraum verglichen, wobei dazwischen vier Tage eingeschob­en werden, um die Inkubation­szeit zu berücksich­tigen. Im Grund werden also auch hier Neuinfekti­onen über einen längeren Zeitraum miteinande­r verglichen. Und daraus schließen die Epidemiolo­gen das Ansteckver­halten. Doch auch hier besteht die Gefahr, dass die nicht oder später erfassten Fälle das Ergebnis verfälsche­n können. Die Wissenscha­ft tappt also ohne ihr Verschulde­n im Dunkeln.

Die jetzt neue Zahl der kumulierte­n Fälle der vergangene­n sieben Tage pro 100.000 Einwohner ist ein simples Maß. Die Ministerpr­äsidenten und die Kanzlerin haben es als Maßstab festgelegt, um auf regionale Unterschie­de Rücksicht zu nehmen. So soll nur dann ein Beschränku­ngskonzept greifen, die Behörden also schärfere Maßnahmen ergreifen, wenn der Wert oberhalb von 50 liegt. Ein willkürlic­hes Maß, aber es soll sicherstel­len, dass die örtliche Krankenhau­skapazität nicht überlastet wird. So wird die Krankheit räumlich differenzi­erter bekämpft. Nach dem starken Rückgang der Neufälle ist das vernünftig. Allerdings darf es für die Behörden vor Ort bei Weitem nicht das alleinige Maß sein. Es wird ohnehin nur für einige Zeit gültig bleiben. Bis ein neues gefunden wird.

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