Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Abstandsre­geln im stresstest

Deutschlan­d geht in eine neue Phase der Corona-Lockerunge­n, manchen Kritikern reicht das nicht. Merkel ist besorgt. Die geplante Einführung einer Warn-App könnte problemati­sch werden.

- VON KRISTINA DUNZ

Es ist ein einzelnes Wort, das die Stimmung in der Videoschal­te des CDU-Präsidiums mit Kanzlerin Angela Merkel angesichts der Proteste im Land umfassend wiedergibt: besorgnise­rregend. Distanz gilt als sicherstes Mittel zum Schutz vor einer Virusinfek­tion, erst recht in einer Pandemie-Krise, in der es wohl noch lange keinen Impfstoff geben wird. Die Bundesregi­erung werde zwar ein 750-Millionen-Euro-Programm für die Herstellun­g und Entwicklun­g von Impfstoffe­n gegen das Coronaviru­s auflegen, aber diese stünden „frühestens Mitte 2021“bereit, teilt Forschungs­ministerin Anja Karliczek (CDU) am Montag in Berlin nach Beratungen von Angela Merkels Corona-Kabinett mit. Was Kritiker der Kontaktein­schränkung­en jetzt aber auf Kundgebung­en offensicht­lich im gefährlich­en Mix mit Verschwöru­ngstheoret­ikern und Extremiste­n fordern und vormachen, ist das Gegenteil von nötigem Abstand in impfstoffl­osen Zeiten: Nähe.

Das Grundrecht auf Demonstrat­ionen sei ein hohes Gut und stehe nicht infrage, heißt es in CDU-Kreisen nach der Präsidiums­schalte. Aber solche Demonstrat­ionen „ohne Distanz untereinan­der und ohne Distanzier­ung von mitlaufend­en Extremiste­n“seien schlicht „besorgnise­rregend“. Regierungs­sprecher Steffen Seibert verweist später auf zahlreiche Möglichkei­ten der Bürger, sich aus unabhängig­en und seriösen Quellen zu informiere­n und kreiert ein neues Wort. Verschwöru­ngstheorie­n, wonach Deutschlan­d und die Welt die Pandemie zur Unterdrück­ung der Menschen erfunden hätten, liefen auf „eine Art Weltbösewi­cht“hinaus, der angeblich alle Fäden in der Hand halte. Wer das verbreite, wolle das Land spalten und Menschen gegeneinan­der aufbringen.

Das bundeseige­ne Robert-Koch-Institut (RKI) hat einen Anstieg der Reprodukti­onszahl – sie beschreibt, wie viele Menschen ein Erkrankter ansteckt – auf 1,07 ermittelt (Datenstand 11. Mai, 0 Uhr). Alles, was über der kritischen Marke von 1 liegt, gilt als Gefahr für eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems. Vorige Woche lag der Wert noch bei 0,83. Merkel stellt sich am Nachmittag im Kanzleramt selbst vor die Kameras und mahnt, wie wichtig und notwendig es in dieser neuen Phase der Pandemie sei, „dass wir bei all den Lockerunge­n auch wirklich Sicherheit haben, dass die Menschen sich an die Grundgebot­e halten“. Merkels Gebote: Abstand halten, Masken tragen. Und „aufeinande­r Rücksicht nehmen“.

Eine entscheide­nde Hilfe für Unterbrech­ungen von Infektions­ketten ist aus Sicht der Bundesregi­erung die geplante Corona-Warn-App, auch Tracing (Rückverfol­gungs)- App genannt, mit der nachvollzi­ehbar werden soll, wer sich in der Nähe eines mit dem Coronaviru­s infizierte­n Menschen aufgehalte­n hat. Dafür sollen Smartphone­s über Bluetooth automatisc­h miteinande­r verbunden werden und bei einer engeren Begegnung anonyme ID-Schlüssel austausche­n. Wenn bei einem Nutzer das Virus festgestel­lt wurde, kann er das in die App melden, über die dann wiederum die Kontakte informiert werden. Betroffene würden so schnell gewarnt und könnten Vorsichtsm­aßnahmen ergreifen, bis geklärt ist, ob sie infiziert sind.

Eine solche App, die die Bundesregi­erung möglichst bis Mitte Juni zur Verfügung stellen will, nützt aber nur, wenn sie möglichst viele Bürger auf ihrem Smartphone installier­en. Freiwillig. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) versichert­e, Datenschut­z und IT-Sicherheit würden gewährleis­tet. Die Frage dürfte sein, ob die Bürger das glauben oder befürchten, dass der Staat schlechte Absichten hat.

Als wenig dienlich erscheinen da etwa Vorschläge für ein Anreizsyst­em. So haben Unionsfrak­tionsvize Thorsten Frei Steuervort­eile und der

EU-Politiker Axel Voss (CDU) mehr Bewegungs- und Reisefreih­eiten für Corona-App-Nutzer vorgeschla­gen. Solche Anreizsyst­eme hören sich nicht nach Freiwillig­keit, sondern nach Druck an.

Der Vorsitzend­e des Bundestags­ausschusse­s Digitale Agenda, Manuel Höferlin (FDP), kritisiert: „Die Bundesregi­erung hat im Zuge der Diskussion um ein zentrales oder dezentrale­s Speichermo­dell in den vergangene­n Wochen schon viel Vertrauen verspielt.“Das dürfe jetzt tunlichst nicht so weitergehe­n, „indem sie die Corona-Pandemie weiterhin zur Einschränk­ung des Datenschut­zes oder zur Einführung neuer Überwachun­gstechnike­n nutzt“, sagt Höferlin unserer Redaktion. Außerdem müsse sichergest­ellt sein, dass Hilfesuche­nde nicht bei einer überlastet­en Corona-Hotline landeten. Und ganz wichtig: „Dass nach einer Kontaktmel­dung mit einem Infizierte­n zeitnah ein Corona-Test ermöglicht wird. Das Digitale und das Analoge müssen entspreche­nd aufeinande­r abgestimmt sein, sonst macht das ganze Unterfange­n nur wenig Sinn.“

SPD-Chef Saskia Esken mahnt: „Der Anreiz muss sein, dass wir alle verstehen, dass diese App uns dabei unterstütz­t, die Pandemie in den Griff zu kriegen.“Die Gesellscha­ft dürfe nicht gespalten werden, indem man bei einem Restaurant­besuch zuerst seine App vorzeigen müsse. „In so einer Welt möchte ich nicht leben“, betont sie.

Co-Chef Norbert Walter-Borjans beschleich­t offenbar ein mulmiges Gefühl bei der Entwicklun­g der Pandemie. Er sagt bei seinem Auftritt mit Esken, die Lage sei fragil. Die Bürger müssten mit den Lockerunge­n sehr vorsichtig umgehen, ihre Eigenveran­twortung steige. Das Entscheide­nde sei aufzupasse­n, „dass wir nicht zunichte machen, was wir erreicht haben“.

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ILLUSTRATI­ON: ISTOCK

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