Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Abstandsregeln im stresstest
Deutschland geht in eine neue Phase der Corona-Lockerungen, manchen Kritikern reicht das nicht. Merkel ist besorgt. Die geplante Einführung einer Warn-App könnte problematisch werden.
Es ist ein einzelnes Wort, das die Stimmung in der Videoschalte des CDU-Präsidiums mit Kanzlerin Angela Merkel angesichts der Proteste im Land umfassend wiedergibt: besorgniserregend. Distanz gilt als sicherstes Mittel zum Schutz vor einer Virusinfektion, erst recht in einer Pandemie-Krise, in der es wohl noch lange keinen Impfstoff geben wird. Die Bundesregierung werde zwar ein 750-Millionen-Euro-Programm für die Herstellung und Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus auflegen, aber diese stünden „frühestens Mitte 2021“bereit, teilt Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) am Montag in Berlin nach Beratungen von Angela Merkels Corona-Kabinett mit. Was Kritiker der Kontakteinschränkungen jetzt aber auf Kundgebungen offensichtlich im gefährlichen Mix mit Verschwörungstheoretikern und Extremisten fordern und vormachen, ist das Gegenteil von nötigem Abstand in impfstofflosen Zeiten: Nähe.
Das Grundrecht auf Demonstrationen sei ein hohes Gut und stehe nicht infrage, heißt es in CDU-Kreisen nach der Präsidiumsschalte. Aber solche Demonstrationen „ohne Distanz untereinander und ohne Distanzierung von mitlaufenden Extremisten“seien schlicht „besorgniserregend“. Regierungssprecher Steffen Seibert verweist später auf zahlreiche Möglichkeiten der Bürger, sich aus unabhängigen und seriösen Quellen zu informieren und kreiert ein neues Wort. Verschwörungstheorien, wonach Deutschland und die Welt die Pandemie zur Unterdrückung der Menschen erfunden hätten, liefen auf „eine Art Weltbösewicht“hinaus, der angeblich alle Fäden in der Hand halte. Wer das verbreite, wolle das Land spalten und Menschen gegeneinander aufbringen.
Das bundeseigene Robert-Koch-Institut (RKI) hat einen Anstieg der Reproduktionszahl – sie beschreibt, wie viele Menschen ein Erkrankter ansteckt – auf 1,07 ermittelt (Datenstand 11. Mai, 0 Uhr). Alles, was über der kritischen Marke von 1 liegt, gilt als Gefahr für eine Überlastung des Gesundheitssystems. Vorige Woche lag der Wert noch bei 0,83. Merkel stellt sich am Nachmittag im Kanzleramt selbst vor die Kameras und mahnt, wie wichtig und notwendig es in dieser neuen Phase der Pandemie sei, „dass wir bei all den Lockerungen auch wirklich Sicherheit haben, dass die Menschen sich an die Grundgebote halten“. Merkels Gebote: Abstand halten, Masken tragen. Und „aufeinander Rücksicht nehmen“.
Eine entscheidende Hilfe für Unterbrechungen von Infektionsketten ist aus Sicht der Bundesregierung die geplante Corona-Warn-App, auch Tracing (Rückverfolgungs)- App genannt, mit der nachvollziehbar werden soll, wer sich in der Nähe eines mit dem Coronavirus infizierten Menschen aufgehalten hat. Dafür sollen Smartphones über Bluetooth automatisch miteinander verbunden werden und bei einer engeren Begegnung anonyme ID-Schlüssel austauschen. Wenn bei einem Nutzer das Virus festgestellt wurde, kann er das in die App melden, über die dann wiederum die Kontakte informiert werden. Betroffene würden so schnell gewarnt und könnten Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, bis geklärt ist, ob sie infiziert sind.
Eine solche App, die die Bundesregierung möglichst bis Mitte Juni zur Verfügung stellen will, nützt aber nur, wenn sie möglichst viele Bürger auf ihrem Smartphone installieren. Freiwillig. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versicherte, Datenschutz und IT-Sicherheit würden gewährleistet. Die Frage dürfte sein, ob die Bürger das glauben oder befürchten, dass der Staat schlechte Absichten hat.
Als wenig dienlich erscheinen da etwa Vorschläge für ein Anreizsystem. So haben Unionsfraktionsvize Thorsten Frei Steuervorteile und der
EU-Politiker Axel Voss (CDU) mehr Bewegungs- und Reisefreiheiten für Corona-App-Nutzer vorgeschlagen. Solche Anreizsysteme hören sich nicht nach Freiwilligkeit, sondern nach Druck an.
Der Vorsitzende des Bundestagsausschusses Digitale Agenda, Manuel Höferlin (FDP), kritisiert: „Die Bundesregierung hat im Zuge der Diskussion um ein zentrales oder dezentrales Speichermodell in den vergangenen Wochen schon viel Vertrauen verspielt.“Das dürfe jetzt tunlichst nicht so weitergehen, „indem sie die Corona-Pandemie weiterhin zur Einschränkung des Datenschutzes oder zur Einführung neuer Überwachungstechniken nutzt“, sagt Höferlin unserer Redaktion. Außerdem müsse sichergestellt sein, dass Hilfesuchende nicht bei einer überlasteten Corona-Hotline landeten. Und ganz wichtig: „Dass nach einer Kontaktmeldung mit einem Infizierten zeitnah ein Corona-Test ermöglicht wird. Das Digitale und das Analoge müssen entsprechend aufeinander abgestimmt sein, sonst macht das ganze Unterfangen nur wenig Sinn.“
SPD-Chef Saskia Esken mahnt: „Der Anreiz muss sein, dass wir alle verstehen, dass diese App uns dabei unterstützt, die Pandemie in den Griff zu kriegen.“Die Gesellschaft dürfe nicht gespalten werden, indem man bei einem Restaurantbesuch zuerst seine App vorzeigen müsse. „In so einer Welt möchte ich nicht leben“, betont sie.
Co-Chef Norbert Walter-Borjans beschleicht offenbar ein mulmiges Gefühl bei der Entwicklung der Pandemie. Er sagt bei seinem Auftritt mit Esken, die Lage sei fragil. Die Bürger müssten mit den Lockerungen sehr vorsichtig umgehen, ihre Eigenverantwortung steige. Das Entscheidende sei aufzupassen, „dass wir nicht zunichte machen, was wir erreicht haben“.