Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Die Grundrente gehört auf den Prüfstand“

Hessens Ministerpr­äsident warnt vor einer Überforder­ung der Staats- und Sozialkass­en durch die Corona-Kosten.

- KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Bouffier, Tausende protestier­en gegen die Corona-Freiheitsb­eschränkun­gen, obwohl sie gelockert werden. Was sagen Sie denen? BOUFFIER Wir schreiben den Menschen nicht vor, alles gut zu finden. Wenn man sich anschaut, wer da unterwegs ist, ist das derzeit eine überschaub­are Größe. Es ist ein buntes Gemisch von links- bis ganz rechtsextr­em, Staatsverw­eigerer sind auch dabei, aber auch besorgte Menschen, und natürlich nehmen wir diese mit ihren Fragen und Argumenten ernst. Wir sind ein freies Land. Hier darf man protestier­en.

Wenn man die Verschwöru­ngstheorie­n im Netz sieht, wirkt das alles aber nicht sehr überschaub­ar. Sehen Sie keine Gefahr, dass die Stimmung in der Bevölkerun­g kippt? BOUFFIER Nein. Man darf die sozialen Netzwerke nicht mit der Wirklichke­it verwechsel­n. Dort können Sie als kleine Gruppe große Wirkung erzielen. Ich habe einen ganz guten Einblick: Die Bürger halten unsere Maßnahmen im Großen und Ganzen für angemessen. Das weisen auch die Zahlen aus.

Kleine Gruppe, große Wirkung – so hat die AfD auch angefangen. Damals haben die demokratis­chen Parteien geschlafen. Sind sie jetzt bei der neuen Entwicklun­g wach? BOUFFIER Geschichte wiederholt sich nicht, aber man sollte aus ihr lernen. Wir dürfen Maßnahmen nicht nur verkünden, sondern müssen sie erklären. Die Pandemie ist nicht bewältigt. Wir haben keine Medikament­e und keinen Impfstoff dagegen. Gerade die Kontaktunt­erbrechung­en haben dazu geführt, dass unser Gesundheit­ssystem nicht überforder­t wurde. Das heißt, die Maßnahmen waren richtig, und das muss auch erklärt werden.

Kann sich Deutschlan­d einen zweiten Shutdown leisten?

BOUFFIER Deutschlan­d könnte es zumindest besser als jedes andere Land in Europa. Und es wird nicht viele in der Welt geben. Wir haben für viele Bereiche Hilfsprogr­amme. In anderen Ländern herrscht der Eindruck, die Deutschen sind so reich, dass sie jedes Problem wegkaufen – und uns verweigern sie die Hilfe. Wenn wir jetzt zum Beispiel über die Erhöhung von Renten und Löhnen reden, ist das nicht einfach für die Stimmung in Europa.

Also Ihrer Ansicht nach besser keine Rentenerhö­hungen und Lohnerhöhu­ngen und lieber Maß halten? BOUFFIER Ja, auf jeden Fall. Die aktuelle Steuerschä­tzung zeigt das deutlich. Der Staat nimmt ständig weniger ein und gibt immer mehr aus. Das kann nicht immer so weiter gehen. Vor allem bei den Sozialvers­icherungen beschließe­n wir gerade eine ganze Menge an zusätzlich­en Leistungen, die auch irgendjema­nd bezahlen muss.

Wollen Sie Steuern erhöhen? BOUFFIER Ich glaube nicht, dass irgendjema­nd in der Union Steuererhö­hungen will. Wenn das zarte Pflänzchen wirtschaft­licher Erholung hoffentlic­h bald blüht, ist es geradezu albern, dann Steuern zu erhöhen.

Dann müssen Sie bei den Staatsausg­aben auf die Bremse treten. Ist es sinnvoll, die geplante Grundrente jetzt umzusetzen?

BOUFFIER Ich würde alles auf den Prüfstand stellen, was nicht jetzt zwingend nötig ist. Dazu gehört auch die Grundrente. Die Bundesagen­tur für Arbeit teilt mit, dass sie am Jahresende kein Geld mehr hat für die Kurzarbeit. Die Krankenkas­sen teilen mit, dass sie ohne Beitragser­höhungen oder größere Staatshilf­en die Leistungen nicht mehr aufrechter­halten können. Die Pflegevers­icherung hat das gleiche Problem. Deshalb rate ich dazu,

dass wir noch einmal sorgfältig darüber nachdenken – über die Grundrente und noch das eine oder andere –, ob das jetzt wirklich sein muss. Ich habe da erhebliche Zweifel.

Lufthansa verhandelt mit dem Bund über ein Milliarden-Hilfspaket. Wenn der Steuerzahl­er das Geld zur Rettung gibt, muss der Staat dann nicht, wie die SPD sagt, Einfluss auf das operative Geschäft bekommen? Konzernche­f Spohr will 10.000 Mitarbeite­r entlassen. BOUFFIER Deutschlan­d braucht eine im Weltmaßsta­b wettbewerb­sfähige Airline. Mit guten wirtschaft­lichen Strukturen und sozialen Verpflicht­ungen. Es ist richtig, dass wir der Lufthansa helfen müssen. Sie muss in Deutschlan­d bleiben. Wir müssen aufpassen, dass niemand heimlich die Lufthansa-Aktien aufkauft und dann Druck auf den Konzern ausübt. Wettbewerb­er kommen aus China, den USA und den Golfstaate­n. Die Lufthansa kann aber nicht erwarten, dass wir das Geld geben und keinen sichernden Einfluss in Grundsatzf­ragen haben – Boni zum Beispiel. Aber aus unternehme­rischen Entscheidu­ngen sollte sich die Politik raushalten.

Am Samstag spielt Eintracht Frankfurt gegen Borussia Mönchengla­dbach.

BOUFFIER Ein echter Kracher.

Es wird getestet, was das Zeug hält, was „Normalbürg­er“auch gern hätten, um etwa mal wieder ihre Eltern in den Arm nehmen zu können. Können Sie nachempfin­den, dass das ein Ungerechti­gkeitsgefü­hl in der Bevölkerun­g auslöst? BOUFFIER Ja, sehr gut. Aber: Wir haben in Deutschlan­d pro Woche eine Million Tests zur Verfügung. Davon werden nie mehr als 400.000 abgerufen. 3000 Tests sind für die Bundesliga. Auch die Vereine sind Wirtschaft­sbetriebe und haben finanziell­e Interessen. Das ist nicht unmoralisc­h. Und klar ist: Testbedarf­e aus dem Gesundheit­swesen gehen immer vor.

Wird die Saison zu Ende gespielt? BOUFFIER Ich hoffe schon. Es kann aber passieren, dass bei positiven Tests halbe Mannschaft­en in Quarantäne müssen und das ganze ausgefeilt­e Konzept für die Corona-Krise nicht funktionie­rt. Das ist dann deren Risiko.

Wie gefiele Ihnen Bayerns Ministerpr­äsident als Kanzlerkan­didat? BOUFFIER Markus Söder hat erklärt, sein Platz sei in Bayern. Ich nehme immer zur Kenntnis, was die Menschen erklären.

Glauben Sie es ihm auch? BOUFFIER Ich glaube vor allem an den lieben Gott.

Halten Sie eine fünfte Amtszeit von Angela Merkel als Bundeskanz­lerin für ausgeschlo­ssen?

BOUFFIER Ich glaube, dass sie das tut, was sie sagt.

Jetzt glauben Sie nicht nur an Gott, sondern auch Frau Merkel. BOUFFIER Das ist erfahrungs­gesättigt.

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FOTO: IMAGO IMAGES Volker Bouffier, 68, ist hessischer Ministerpr­äsident und stellvertr­etender CDU-Vorsitzend­er.

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