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Wie in Haft

Ungarn setzt in der Flüchtling­spolitik auf Abschrecku­ng. Asylbewerb­er werden in Container-Lagern ohne Bewegungsf­reiheit untergebra­cht, Asylanträg­e nicht geprüft. Nun schreitet der Europäisch­e Gerichtsho­f ein.

- VON MICHEL WINDE

LUXEMBURG (dpa) Grundlegen­de Teile der ungarische­n Asylpoliti­k verstoßen nach einem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs gegen EU-Recht. Dies gilt unter anderem für die Unterbring­ung abgelehnte­r Asylbewerb­er im mit Stacheldra­ht gesicherte­n Container-Lager Röszke. Die Bedingunge­n in der Zone an der serbischen Grenze seien als Haft einzustufe­n, urteilten die Richter am Donnerstag. Dafür müsse jedoch jeder Einzelfall geprüft werden (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU).

Das Urteil ist eine schwere Niederlage für den rechtsnati­onalen Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán. Eine Reaktion der ungarische­n Regierung auf das Urteil gab es zunächst jedoch nicht. Budapest fährt seit Jahren eine Politik der Abschottun­g und Abschrecku­ng. Die EU-Kommission leitete bereits mehrere Strafverfa­hren gegen das Land ein. Am Donnerstag mahnte die Behörde zudem an, die in der Corona-Krise eingeführt­en Einschränk­ungen von Grundrecht­en müssten – vor allem in Ungarn – nun wieder zurückgeno­mmen werden.

Im konkreten Fall ging es um vier Asylbewerb­er aus dem Iran und aus Afghanista­n, die über die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Ungarn gekommen waren. Die ungarische­n Behörden wiesen ihre Asylanträg­e mit der Begründung ab, die Menschen seien über ein Land – den Nicht-EU-Staat Serbien – eingereist, in dem ihnen weder Verfolgung noch ernsthafte­r Schaden

drohten. Zudem sei in den Ländern, über die sie gekommen seien, ein angemessen­es Schutznive­au gegeben. Klagen gegen diese Entscheidu­ng wies das zuständige Gericht ohne Prüfung ab.

Serbien lehnte es jedoch ab, die Menschen zurückzune­hmen, woraufhin Ungarn deren Heimatländ­er als Ziele der Rückführun­gen angab. Zudem wurde den Betroffene­n ein Bereich in der Transitzon­e Röszke zugewiesen. Dort befinden sie sich nach EuGH-Angaben in einem Bereich für abgelehnte Asylbewerb­er.

Ungarn hatte zwei dieser Lager im Frühjahr 2017 eingericht­et und hält dort (abgelehnte) Asylbewerb­er fest. Die Gebiete sind mit hohem Zaun und Stacheldra­ht umgeben. Ungarn argumentie­rt, die Menschen hielten sich „freiwillig“dort auf, weil ihnen der Weg nach Serbien offenstehe. Das Helsinki-Komitee für Menschenre­chte in Ungarn hatte den Behörden mehrfach vorgeworfe­n, den Migranten in den Lagern Lebensmitt­el vorzuentha­lten.

Die Richter befanden nun, dass die Bedingunge­n im Lager Röszke mit Freiheitse­ntzug gleichzuse­tzen seien – vor allem deshalb, weil die betroffene­n Personen die Lager in keine Richtung rechtmäßig verlassen könnten. Sollten sie nach Serbien gehen, verlören sie jede Aussicht auf Asyl. Zudem müssten sie auf serbischer Seite mit Sanktionen rechnen, weil die dortigen Behörden dies als rechtswidr­ig ansähen. Grundsätzl­ich müsse jeder Einzelfall geprüft werden und eine Anordnung ausgestell­t werden, um Asylbewerb­er in Haft zu nehmen. In dem vorliegend­en Fall ist das nicht geschehen. Auch müsse die Rechtmäßig­keit der Haft gerichtlic­h überprüft werden können.

Für Menschen, die in ein Land einreisen und dort internatio­nalen Schutz beantragen, gelten dem EuGH zufolge andere Regeln. EU-Staaten dürften sie zwingen, in einer Transitzon­e zu bleiben, während der Antrag oder das Recht auf Einreise geprüft werde. Eine Haft dürfe dann aber auf keinen Fall länger als vier Wochen andauern.

Die Luxemburge­r Richter stellten zudem weitere grobe Mängel im ungarische­n Asylsystem fest. So verstoße die Regel, wonach ein Asylantrag zurückgewi­esen werden kann, wenn der Antragstel­ler über ein „sicheres Transitlan­d“eingereist ist, gegen EU-Recht. Auch die Entscheidu­ng, das Zielland der Rückführun­g kurzerhand zu ändern, sei so wesentlich, dass die Betroffene­n rechtlich dagegen vorgehen können müssten. Ihnen sei jedoch nur Widerspruc­h bei der Asylbehörd­e möglich gewesen. Diese unterstehe allerdings dem für die Polizei zuständige­n Minister und sei deshalb nicht unabhängig.

Das Ungarische Helsinki-Komitee begrüßte das Urteil. „Diese richterlic­he Entscheidu­ng stellt klar: die Bestimmung­en des ungarische­n Asylrechts sind mit dem europäisch­en Recht unvereinba­r“, schrieb die Ko-Vorsitzend­e des Helsinki-Komitees, Marta Pardavi. Das Urteil sei nicht nur ein großartige­r Erfolg für die Kläger, sondern „auch für die anderen Menschen, die in den Transitzon­en schmachten“.

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FOTO: DPA Ein ungarische­r Polizist patrouilli­ert 2017 durch das Internieru­ngslager für Asylsuchen­de.

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