Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

NRW-Kommunen fordern fünf Milliarden Euro

Die Krise reißt Löcher in die Haushalte. Der Städte- und Gemeindebu­nd NRW befürchtet, dass ohne Hilfen Leistungen wegfallen.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND MAXIMILIAN PLÜCK

BERLIN Bund, Länder und Gemeinden müssen wegen der Corona-Krise einen gewaltigen Rückgang der Steuereinn­ahmen verkraften. Im Vergleich zum vergangene­n Jahr sinken die Steuereinn­ahmen laut der neuen Steuerschä­tzung um 81,5 Milliarden Euro, wie das Bundesfina­nzminister­ium am Donnerstag bekannt gab. Im Vergleich zur letzten Prognose im Oktober werden dem Staat sogar 98,6 Milliarden Euro fehlen.

Insgesamt stehen dem Staat 315,9 Milliarden Euro bis 2024 weniger zur Verfügung als bislang geschätzt. Das Minus bei den Kommunen fällt mit 15,9 Milliarden Euro im laufenden Jahr allerdings geringer aus als von den kommunalen Spitzenver­bänden befürchtet: Sie hatten einen Rückgang zwischen 20 und 30 Milliarden Euro allein 2020 erwartet.

Da der Staat zugleich erhebliche Mehrausgab­en zur Stabilisie­rung von Wirtschaft und Sozialsyst­em schultern muss, kommen auf Bund und Länder schwierige Haushaltsp­lanungen und Finanzieru­ngsdebatte­n zu. Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) bezifferte die Kosten des Bundes für die bisherigen Corona-Hilfspaket­e mit 453,4 Milliarden

Euro allein im Jahr 2020. Dazu kämen Kreditgara­ntien über mehr als 800 Milliarden Euro, die möglicherw­eise auch noch greifen müssen, wenn Unternehme­n ihren Kreditverp­flichtunge­n nicht nachkommen können.

Absehbar ist deshalb, dass die bisher geplanten 156 Milliarden Euro an neuen Schulden im Bundeshaus­halt nicht ausreichen, um die Folgen der Pandemie abzufangen. Ein zweiter Nachtragse­tat für 2020 nach der Sommerpaus­e wird im Bundestag bereits diskutiert. Scholz will Anfang Juni ein Konjunktur­paket vorlegen, das der Wirtschaft wieder auf die Füße helfen soll. Zudem erwarten die Kommunen, die Gastronomi­e und weitere Branchen neue Rettungssc­hirme des Bundes.

Scholz erklärte, er halte an seinem Plan zur Übernahme der kommunalen Altschulde­n fest. Da von dieser Entlastung überwiegen­d Nordrhein-Westfalen, das Saarland und Rheinland-Pfalz profitiere­n würden, erwarten die übrigen Länder und Kommunen aber noch zusätzlich­e Hilfen.

Der Städte- und Gemeindebu­nd NRW rechnet vor, dass für die Kommunen bei der Gewerbeste­uer drei Milliarden Euro im laufenden Jahr und noch einmal 1,2 Milliarden im kommenden wegbrechen. Beim Anteil

an der Einkommen- und Umsatzsteu­er sind es für beide Jahre insgesamt 1,9 Milliarden. Die Ausfälle bei den Landessteu­ern treffen die Kommunen zwar erst 2021, dann aber mit 1,3 Milliarden Euro. Insgesamt fehlen den Städten und Gemeinden am Ende 7,2 Milliarden Euro – und da sind die ausbleiben­den Einnahmen aus ÖPNV-Tickets, Schwimmbäd­ern und Theatern sowie die gestiegene­n Kosten durch zusätzlich­e Aufgaben noch nicht einberechn­et. „Das sind Dimensione­n, die können Sie als Kommune nicht mal eben so wegsparen“, sagte der Hauptgesch­äftsführer des Städte- und Gemeindebu­nds NRW, Bernd Jürgen Schneider: „Vielen Städten und Gemeinden bricht damit die finanziell­e Grundlage weg.“Ohne umfassende Hilfen müssten sie bald kommunale Leistungen streichen: Zuschüsse für Vereine, der Betrieb von Einrichtun­gen, Öffnungsze­iten von Bibliothek­en. „Und auf der Einnahmens­eite werden manche versuchen, weiter an der Schraube zu drehen. Stichwort: Grundsteue­r.“Daran könne aber niemand ein Interesse haben.

Zumal die Kommunen krisenbedi­ngt neue Aufgaben bekämen. So sollen sie die Voraussetz­ungen für das digitale Lernen in den Schulen schaffen. „Das Land muss deshalb zunächst ausstehend­e Finanzzusa­gen, zum Beispiel die zugesagte Übernahme der Kosten für Geflüchtet­e, übernehmen. Doch am Ende wird auch das nicht reichen. Wir benötigen einen echten Rettungssc­hirm“, forderte Schneider und sprach von einem Volumen von mindestens fünf Milliarden Euro.

Die neue Steuerschä­tzung hat die Debatte über Einsparung­en und mögliche Steuererhö­hungen befeuert. SPD-Politiker wiederholt­en ihre Forderunge­n nach Mehrbelast­ungen für Reiche und Vermögende nach der Krise, die Union lehnte dies strikt ab. „Steuererhö­hungen sind Gift, das gilt sowohl für die Vermögensa­bgabe als auch für die Reichenste­uer. Statt dessen sollten wir Sonderabsc­hreibungen für Unternehme­n einführen, die gezielt in den Klimaschut­z und Digitalisi­erung investiere­n“, sagte der Chefhaushä­lter der Unionsfrak­tion, Eckhardt Rehberg. „Ich bin froh, dass sich die Kanzlerin festgelegt hat: Steuererhö­hungen zur Gegenfinan­zierung der Steuerausf­älle sind ausgeschlo­ssen“, sagte auch die finanzpoli­tische Sprecherin der Union, Antje Tillmann.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans bekräftigt­e dagegen in den Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe, dass große Gewinne globaler Unternehme­n sowie „steuerlich kleingerec­hnete Top-Einkommen und Top-Vermögen“künftig einen größeren Beitrag zur Gegenfinan­zierung leisten müssten. „Nach der Krise muss in der Besteuerun­g von hohen Einkommen und Vermögen etwas passieren: Diejenigen, die auch nach der Krise viel besitzen, sollten einen größeren Anteil an der krisenbedi­ngten Last tragen als bisher“, sagte auch der finanzpoli­tische Sprecher der SPD-Fraktion, Lothar Binding. SPD-Co-Chefin Saskia Esken hatte eine einmalige Vermögensa­bgabe ins Gespräch gebracht, Scholz eine Erhöhung der Reichenste­uer.

Der Finanzmini­ster lehnte Kürzungen im Haushalt strikt ab, die etwa vom Steuerzahl­erbund gefordert worden waren. Auch die Union ist dagegen. „Das Wort Sparen passt nicht in diese Krisen-Zeit. Jetzt geht es darum, die Krise mit akuten staatliche­n Nothilfen zu überbrücke­n, dann ein Konjunktur­programm aufzulegen, die Sozialbeit­räge bei unter 40 Prozent des Bruttolohn­s zu halten und die Herausford­erung Europa zu stemmen“, sagte Chefhaushä­lter Rehberg. Allerdings müsse der Staat beim Geldausgeb­en Maß halten. „Wir können nicht jeden Wunsch nach Staatshilf­e erfüllen. Wir müssen mit Argusaugen darauf achten, was die Konjunktur ankurbelt und was nicht und was zukunftsge­richtet ist.“

Der Arbeitskre­is Steuerschä­tzung kommt zweimal im Jahr zusammen, im Frühjahr und Herbst. Darin sitzen Experten der Bundesregi­erung, der fünf führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute, des Statistisc­hen Bundesamts, der Bundesbank, des Sachverstä­ndigenrats zur Begutachtu­ng der Wirtschaft­lichen Entwicklun­g in Deutschlan­d, Vertreter der Länderfina­nzminister­ien sowie der Kommunen. Sie gehen die erwarteten Einnahmen bei allen Steuerarte­n durch und rechnen diese dann zusammen.

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