Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Das ungewöhnlichste Derby aller Zeiten
95 Mal trafen Dortmund und Schalke in der Bundesliga aufeinander. Aber noch nie vor leeren Rängen. Dem BVB fehlt die Unterstützung der Südtribüne und damit der Vorteil der Heimspiel-Atmosphäre.
DORTMUND Dem knurrigen Kerkrader Trainer Huub Stevens verdankt die Welt die taktische Formel für den erfolgreichen Defensivfußball. „Die Null“, sagte der einstige Schalker Coach, „muss stehen.“Das war in den späten 1990er Jahren. Gut 20 Jahre darauf ist Ullrich Sierau der Satz wohl wieder eingefallen. Für den Dortmunder Oberbürgermeister ist er die taktische Formel im erfolgreichen Umgang mit dem Coronavirus. „Die Null soll stehen – bei der Infektionskette“, erklärt er vor dem Bundesliga-Revierderby zwischen dem BVB und Schalke 04. Und er ruft damit die Fans auf, sich nicht am Stadion zu versammeln.
Das gab es noch nie. Und es passt zu den Begleiterscheinungen des Derbys im einstigen Kohlerevier. 95 Mal haben Dortmund und Schalke in der Bundesliga gegeneinander gespielt, aber am Samstag stehen sie sich erstmals vor leeren Rängen gegenüber. „Das wird sicher das ungewöhnlichste Derby der Geschichte“, sagt Sebastian Kehl, der Leiter der BVB-Lizenzspielerabteilung, der „Welt“. Schließlich lebe dieses Spiel doch von „der Begeisterung im Stadion, von den Emotionen. Aber das werden wir nicht haben“.
Es gibt nicht wenige Experten, die in der Geisterspiel-Atmosphäre einen Nachteil für den eigentlichen Favoriten sehen. Hans-Joachim
Watzke gehört zu ihnen. Der Dortmunder Geschäftsführer gilt ohnehin nicht als bedenkenloser Optimist. Er sieht selbst bei klarer Führung seiner Mannschaft stets noch die Möglichkeit fürchterlicher Rückschläge, und er hat nicht so richtig viele Spiele seines Klubs im Stadion herzhaft genießen können. Er glaubt: „Gerade für einen Verein wie den BVB, der aus der Leidenschaft seiner Fans im Stadion viel Kraft zieht, ist das eine enorme Herausforderung.“Der ehemalige Dortmunder Torwart Roman Weidenfeller verweist kundig darauf, dass die Heimbilanz von 30 Punkten „nicht nur, aber auch wegen der einzigartigen Atmosphäre“erarbeitet wurde.
Manchmal reichte aber nicht einmal diese einzigartige Atmosphäre. Gelegentlich schien sie sogar den Gast zu beflügeln. Dafür gelten vor allem drei Spiele als Beleg. Das erste trug sich im Dezember 1997 zu, in einer Zeit, als besagter Stevens und seine „Die Null muss stehen“-Taktik Schalke zum Gewinn des Uefa-Pokals trugen. Da sorgte der Torwart Jens Lehmann, ein gelegentlicher Grenzgänger zwischen den Welten im Revier, mit einem Kopfballtreffer in letzter Minute für Schalkes Ausgleich zum 2:2.
Das zweite Beispiel war noch krasser. Ende November 2017 schoss der BVB die Schalker in der ersten Halbzeit beinahe aus dem Stadion. Aber nur beinahe. Die 4:0-Führung zur
Pause glich der Gast in einem bemerkenswerten Kraftakt noch zum 4:4 aus. Und als sich die Dortmunder im vergangenen Frühjahr noch Hoffnungen auf den Meistertitel machen durften, zerstörte Schalke diese Träume mit einem 4:2-Erfolg im ehemaligen Westfalenstadion.
Natürlich gab es auch Belege für die These, dass die Heimspielatmosphäre Punkte bringen kann. So drehte der BVB im September 2008 einen 0:3-Rückstand zum 3:3. Trainer Jürgen Klopp feierte das Unentschieden an der Außenlinie wie einen Sieg und zersägte dabei unsichtbare dicke Baumstämme. Und im Schluss-Spurt der Saison 2006/07 machten die Dortmunder durch einen 2:0-Erfolg den Schalkern einen Strich durch die Meisterrechnung.
In jedem Fall spielten Emotionen und Lautstärke auf den Rängen entscheidende Rollen. So war das schon in den Gründerzeiten der Bundesliga. 1969 zum Beispiel. Da saßen die Zuschauer im überfüllten Stadion „Rote Erde“buchstäblich an den Seitenlinien. Und als der Schalker Hansi Pirkner seine Elf mit 1:0 in Führung brachte, gab es einen Platzsturm. Das Dortmunder Ordnungspersonal ließ Hunde los, die allerdings statt der Fans zwei Schalker bissen – Gerd Neuser in den Oberschenkel, Friedel Rausch in den Allerwertesten. Beide erhielten vom BVB ein Schmerzensgeld von je 500 Mark und einen Blumenstrauß. Damit und weniger mit dem Endergebnis von 1:1 ging dieses Spiel in die Geschichte des Revierderbys ein.
Das Geisterderby zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs bekommt ebenfalls historischen Wert. Es wird das erste, an dem das Publikum nicht tätig mitwirken kann. Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc erinnert sich da notgedrungen an die eigene Jugend. „Als wir angefangen haben, Fußball zu spielen, waren auch keine Fans da und die Bedingungen nicht schön“, sagt er im „Kicker“, „trotzdem hat man versucht, sein Bestes zu geben.“Das zumindest kann er am Samstag erwarten. Mit einem richtigen Derby wird das Treiben im Stadion allerdings nichts zu tun haben. Und auch ums Stadion herum nicht – jedenfalls, wenn es nach Oberbürgermeister Sierau geht.