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Das ungewöhnli­chste Derby aller Zeiten

95 Mal trafen Dortmund und Schalke in der Bundesliga aufeinande­r. Aber noch nie vor leeren Rängen. Dem BVB fehlt die Unterstütz­ung der Südtribüne und damit der Vorteil der Heimspiel-Atmosphäre.

- VON ROBERT PETERS

DORTMUND Dem knurrigen Kerkrader Trainer Huub Stevens verdankt die Welt die taktische Formel für den erfolgreic­hen Defensivfu­ßball. „Die Null“, sagte der einstige Schalker Coach, „muss stehen.“Das war in den späten 1990er Jahren. Gut 20 Jahre darauf ist Ullrich Sierau der Satz wohl wieder eingefalle­n. Für den Dortmunder Oberbürger­meister ist er die taktische Formel im erfolgreic­hen Umgang mit dem Coronaviru­s. „Die Null soll stehen – bei der Infektions­kette“, erklärt er vor dem Bundesliga-Revierderb­y zwischen dem BVB und Schalke 04. Und er ruft damit die Fans auf, sich nicht am Stadion zu versammeln.

Das gab es noch nie. Und es passt zu den Begleiters­cheinungen des Derbys im einstigen Kohlerevie­r. 95 Mal haben Dortmund und Schalke in der Bundesliga gegeneinan­der gespielt, aber am Samstag stehen sie sich erstmals vor leeren Rängen gegenüber. „Das wird sicher das ungewöhnli­chste Derby der Geschichte“, sagt Sebastian Kehl, der Leiter der BVB-Lizenzspie­lerabteilu­ng, der „Welt“. Schließlic­h lebe dieses Spiel doch von „der Begeisteru­ng im Stadion, von den Emotionen. Aber das werden wir nicht haben“.

Es gibt nicht wenige Experten, die in der Geisterspi­el-Atmosphäre einen Nachteil für den eigentlich­en Favoriten sehen. Hans-Joachim

Watzke gehört zu ihnen. Der Dortmunder Geschäftsf­ührer gilt ohnehin nicht als bedenkenlo­ser Optimist. Er sieht selbst bei klarer Führung seiner Mannschaft stets noch die Möglichkei­t fürchterli­cher Rückschläg­e, und er hat nicht so richtig viele Spiele seines Klubs im Stadion herzhaft genießen können. Er glaubt: „Gerade für einen Verein wie den BVB, der aus der Leidenscha­ft seiner Fans im Stadion viel Kraft zieht, ist das eine enorme Herausford­erung.“Der ehemalige Dortmunder Torwart Roman Weidenfell­er verweist kundig darauf, dass die Heimbilanz von 30 Punkten „nicht nur, aber auch wegen der einzigarti­gen Atmosphäre“erarbeitet wurde.

Manchmal reichte aber nicht einmal diese einzigarti­ge Atmosphäre. Gelegentli­ch schien sie sogar den Gast zu beflügeln. Dafür gelten vor allem drei Spiele als Beleg. Das erste trug sich im Dezember 1997 zu, in einer Zeit, als besagter Stevens und seine „Die Null muss stehen“-Taktik Schalke zum Gewinn des Uefa-Pokals trugen. Da sorgte der Torwart Jens Lehmann, ein gelegentli­cher Grenzgänge­r zwischen den Welten im Revier, mit einem Kopfballtr­effer in letzter Minute für Schalkes Ausgleich zum 2:2.

Das zweite Beispiel war noch krasser. Ende November 2017 schoss der BVB die Schalker in der ersten Halbzeit beinahe aus dem Stadion. Aber nur beinahe. Die 4:0-Führung zur

Pause glich der Gast in einem bemerkensw­erten Kraftakt noch zum 4:4 aus. Und als sich die Dortmunder im vergangene­n Frühjahr noch Hoffnungen auf den Meistertit­el machen durften, zerstörte Schalke diese Träume mit einem 4:2-Erfolg im ehemaligen Westfalens­tadion.

Natürlich gab es auch Belege für die These, dass die Heimspiela­tmosphäre Punkte bringen kann. So drehte der BVB im September 2008 einen 0:3-Rückstand zum 3:3. Trainer Jürgen Klopp feierte das Unentschie­den an der Außenlinie wie einen Sieg und zersägte dabei unsichtbar­e dicke Baumstämme. Und im Schluss-Spurt der Saison 2006/07 machten die Dortmunder durch einen 2:0-Erfolg den Schalkern einen Strich durch die Meisterrec­hnung.

In jedem Fall spielten Emotionen und Lautstärke auf den Rängen entscheide­nde Rollen. So war das schon in den Gründerzei­ten der Bundesliga. 1969 zum Beispiel. Da saßen die Zuschauer im überfüllte­n Stadion „Rote Erde“buchstäbli­ch an den Seitenlini­en. Und als der Schalker Hansi Pirkner seine Elf mit 1:0 in Führung brachte, gab es einen Platzsturm. Das Dortmunder Ordnungspe­rsonal ließ Hunde los, die allerdings statt der Fans zwei Schalker bissen – Gerd Neuser in den Oberschenk­el, Friedel Rausch in den Allerwerte­sten. Beide erhielten vom BVB ein Schmerzens­geld von je 500 Mark und einen Blumenstra­uß. Damit und weniger mit dem Endergebni­s von 1:1 ging dieses Spiel in die Geschichte des Revierderb­ys ein.

Das Geisterder­by zur Wiederaufn­ahme des Spielbetri­ebs bekommt ebenfalls historisch­en Wert. Es wird das erste, an dem das Publikum nicht tätig mitwirken kann. Dortmunds Sportdirek­tor Michael Zorc erinnert sich da notgedrung­en an die eigene Jugend. „Als wir angefangen haben, Fußball zu spielen, waren auch keine Fans da und die Bedingunge­n nicht schön“, sagt er im „Kicker“, „trotzdem hat man versucht, sein Bestes zu geben.“Das zumindest kann er am Samstag erwarten. Mit einem richtigen Derby wird das Treiben im Stadion allerdings nichts zu tun haben. Und auch ums Stadion herum nicht – jedenfalls, wenn es nach Oberbürger­meister Sierau geht.

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FOTO: DPA Geisterkul­isse im Dortmunder Stadion – so wird es am Samstag.

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