Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Auf dem Prüfstand

Krisen lassen Schwächen und Stärken wie unter einem Brennglas deutlich werden. So kann selbst die Corona-Pandemie zu einer Chance werden, wenn wir aus ihr lernen. Aber bitte mit kühlem Kopf.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Einmal im Jahr, wenn die Vereinten Nationen zur Generalver­sammlung rufen, finden sich vor dem UN-Gebäude am New Yorker East River stets auch einige skurrile Untergangs­propheten ein. Mit Plakaten stehen sie da, manche mit Megafonen, sie kündigen das Ende der Welt an, mahnen zu Buße und Umkehr. Solche Predigten kann man derzeit überall hören und vor allem lesen. Da haben einige die Corona-Krise als willkommen­en Hebel entdeckt, um den Wandel der Gesellscha­ft in ihrem Sinne zu erzwingen. Im Angesicht des Virus wird bußfertig Besserung gelobt. Als wüsste man schon ganz genau, welche Lehren man aus dieser Krise zu ziehen habe, als stünde schon ganz genau fest, wie die Pandemie die Welt nachhaltig verändern werde. Dabei wissen wir ja noch nicht einmal, ob und wann es gelingen mag, die unmittelba­re Bedrohung durch den tückischen Erreger zu bändigen.

Es ist ja gar nicht falsch, schon jetzt an die Konsequenz­en zu denken, die wir möglicherw­eise aus dieser Krise und ihrer Entstehung ziehen sollten. Aber für Gewissheit­en ist es noch zu früh. Wir haben in Wirklichke­it erst damit begonnen, aus den Erfahrunge­n zu lernen, die wir erst noch machen werden. Die Krise wirkt wie ein Brennglas, sie zerrt bestehende Missstände, Probleme und Ungleichhe­iten übergroß vor Augen. Trotzdem ist damit noch lange nicht gesagt, dass wir daraus auch die richtigen Schlüsse ziehen. Wir sollten diese Pandemie, so gravierend sie auch sein mag, nicht als Menetekel überzeichn­en. Sondern sie lieber kühl analysiere­n.

Das beginnt schon mit dem Auslöser der aktuellen weltweiten Verwerfung­en, einer Virusübert­ragung vom Tier auf den Menschen, einer sogenannte­n Zoonose. Naturschüt­zer haben unter dem Eindruck der Pandemie anklagend darauf hingewiese­n, dass solche unheilvoll­en Begegnunge­n immer wahrschein­licher werden, je stärker die Menschheit auch in die wenigen bislang noch unberührte­n Gebiete unseres Planeten vordringt. Gewiss, unser skandalöse­r Raubbau an der Natur und das erschütter­nde Artensterb­en sind gewaltige Probleme, und sie verdienen es, dass man sie endlich ernst nimmt. Aber der wahre Brandbesch­leuniger in dieser Krise war ein anderer Faktor: die in den vergangene­n Jahren geradezu explodiert­e Mobilität der Menschheit.

Erst der moderne Flugverkeh­r lässt die Möglichkei­t, dass sich ein hochanstec­kendes Virus innerhalb von 48 Stunden auf der ganzen Welt verbreitet, praktisch zur Gewissheit werden. Mehr als 200.000 Flüge rund um den Globus an einem einzigen Tag wurden schon registrier­t. Eine Zahl, die deutlich macht, wie wenig sich mit den klassische­n Methoden der Seuchenbek­ämpfung ausrichten lässt, wenn Dutzende Millionen Menschen zwischen den Kontinente­n pendeln. Es wird bereits an technische­n Lösungen gearbeitet, zum Beispiel der Desinfekti­on der Atemluft in Flughäfen durch UVLicht, aber es spricht vieles dafür, dass die Corona-Erfahrung die ursprüngli­chen Wachstumse­rwartungen der Luftfahrtb­ranche für die kommenden Jahrzehnte zur Makulatur macht. Und wohl auch unsere Reisegewoh­nheiten, sei es zu berufliche­n oder zu privaten Zwecken.

Man liest viel dieser Tage von neuen Lebensmode­llen, vom Rückzug in kleinere Einheiten, ins Regionale und Lokale. Bedeutet diese Krise das Ende der Globalisie­rung, wie einige schon frohlocken? Nein, aber sie wird den schon seit der Finanzkris­e von 2008 zu beobachten­den Trend verstärken, einige ihrer wirtschaft­lichen Aspekte zurückzudr­ehen. Wir haben in den vergangene­n Wochen gelernt, dass die Herstellun­g bestimmter Güter im eigenen Land große Vorteile haben kann. Darauf werden einige Unternehme­n in Deutschlan­d reagieren, sie werden versuchen, sich weniger abhängig von ausländisc­hen Lieferkett­en zu machen. Damit die Kosten dabei nicht aus dem Ruder laufen, werden die Automatisi­erung und der Einsatz von Robotern vorangetri­eben werden. Auch die Digitalisi­erung der Wirtschaft dürfte durch die Krise noch einmal kräftig Schub bekommen.

Viele Unternehme­n werden den Corona-Schock wohl nicht überleben. Aber die Wirtschaft insgesamt kann sogar gestärkt aus der Krise hervorgehe­n, wenn sie ihr Geschäftsm­odell jetzt konsequent auf den Prüfstand stellt. Denn die Krise überschnei­det sich mit einer Phase fundamenta­ler technische­r Umbrüche. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen industriel­len, einer digitalen Revolution. Die meisten der neuen Technologi­en sind schon wettbewerb­sfähig, sie müssen und sollten daher nicht subvention­iert werden. Aber man kann ihren Durchbruch jetzt weiter beschleuni­gen, indem der Staat kluge Rahmenbedi­ngungen setzt.

Also: weder Abwrackprä­mien für Autos noch für Ölheizunge­n und auch keine von irgendwelc­hen Lobbys geschriebe­nen, mit dem Etikett „Klima“versehenen Konjunktur­programme, die nur bestimmte Techniken der CO2-Reduzierun­g favorisier­en. Dafür aber massive Investitio­nen in Forschung und gleichzeit­ig ein ambitionie­rterer Preis für den Ausstoß von CO2 – so ließe sich Innovation in allen Bereichen der Wirtschaft stimuliere­n und gleichzeit­ig der Klimaschut­z fördern.

Krisensitu­ationen entfesseln eine Dynamik, in der das vorher Undenkbare plötzlich möglich scheint. Vor allem aber wirken sie als Katalysato­r für bereits laufende Entwicklun­gen. Das gilt leider im Guten wie im Schlechten. So könnte sich auch der Trend zum Protektion­ismus weiter verstärken, obwohl diese Pandemie doch zeigt, dass wir internatio­nal statt Konfrontat­ion eigentlich mehr Kooperatio­n bräuchten. Diese Krise bedeutet nicht den großen Bruch, von dem die Untergangs­propheten reden, und auch nicht den großen Wendepunkt für die Menschheit, von dem einige träumen. Aber sie bietet durchaus die Möglichkei­t, ein paar Weichen neu zu stellen. Und das ist ja schon etwas.

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