Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Vom Wunderkind zum politische­n Verlierer

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Rainer Barzel gilt in den 50er Jahren als „Wunderkind aus Düsseldorf“. In seiner beeindruck­end detaillier­ten Barzel-Biografie lässt der Historiker Kai Wambach den Leser spüren, mit welcher Dynamik der ehrgeizige Christdemo­krat, politische­r Ziehsohn des damaligen Ministerpr­äsidenten Karl Arnold, schon 1957 in den Bundestag einzieht. 1962 wird Barzel zum Bundesmini­ster für gesamtdeut­sche Fragen, 1964 zum Unionsfrak­tionsvorsi­tzenden. Wambach zitiert Joachim Sobotta, den damaligen Chefredakt­eur der Rheinische­n Post: „In kurzer Zeit ist Barzel nach vorn gekommen, nach ganz vorn. Wächst hier der Kanzler der 70er Jahre heran?“Spätestens nach dieser Eloge erahnt der Leser das Ausmaß der Desillusio­nierung, das Barzels urplötzlic­her politische­r Absturz mit sich gebracht haben muss.

Barzel wird 1972 in den Blickpunkt der westdeutsc­hen Innenpolit­ik katapultie­rt. Dass er trotz diverser Überläufer Kanzler Brandt nicht über ein konstrukti­ves Misstrauen­svotum stürzen kann, hat einen simplen Grund. DDR-Staatssich­erheit und SPD-Führung haben zuvor die Stimmen mindestens zweier Unionsabge­ordneter gekauft. Nach einer 1972 grandios verlorenen Bundestags­wahl ist der Christdemo­krat gescheiter­t. Wambach arbeitet in seiner wuchtigen, 985 Seiten umfassende­n Barzel-Biografie heraus, dass der Eloquenz des CDU-Politikers ein Image der Unnahbarke­it, der Arroganz, des wenig charismati­schen „Computers im Maßanzug“gegenübers­tand.

Nach der doppelten Schmach des Jahres 1972 löst Helmut Kohl seinen Erzrivalen Barzel im Amt des CDU-Vorsitzend­en ab. Vom „Wunderkind aus Düsseldorf“ist Barzel zu einer Art politische­m Verlierer geworden. Zumal er später, wie Wambach ebenfalls präzise rekonstrui­ert, in den Sog der Flick-Affäre gerät und von Tragödien in seinem Privatlebe­n erschütter­t wird. Fazit: Eine Biografie in Moll und dennoch – oder gerade deswegen – lesenswert.

Jan-Hendrik Dany

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Kai Wambach: Rainer Barzel. Eine Biografie. 2019, Ferdinand Schöningh, 985 S., 98 Euro

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