Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Autistisch­e deutsche Außenpolit­ik

Ein provokativ­er Aufsatz würzt einen sonst eher betulichen Sammelband.

- VON PETER SEIDEL

Internatio­nale Organisati­onen haben sich bei der Bekämpfung der Corona-Krise bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das gilt für die Weltgesund­heitsorgan­isation, das gilt für die Europäisch­e Union (EU). Die Corona-Krise wird national oder regional bekämpft, nicht weltweit koordinier­t, und das gilt auch für die EU.

In Deutschlan­d zählen die Außenund Europapoli­tik nicht gerade zu den Stärken des Landes. Hier herrschen moralisier­ende Vorstellun­gen von internatio­naler Politik. Glaubt man der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP), dem wohl wichtigste­n deutschen außenpolit­ischen Think Tank, dann handelt es sich dabei um „außenpolit­ischen Autismus“. So sieht es Hanns Maull, seines Zeichens Senior der SWP. Sein jüngster Aufsatz zum Thema hat es in sich, erschienen ist er im Sammelband von Volker Stanzel „Die neue Wirklichke­it der Außenpolit­ik. Diplomatie im 21. Jahrhunder­t“.

Ganz so neu ist diese Wirklichke­it zwar nicht, wie die zehn Aufsätze des Sammelband­es zeigen: Hinweise in den meisten Beiträgen, dass sich Außenpolit­ik durch neue Akteure, Digitalisi­erung und größere Öffentlich­keiten geändert hat, kann diesen vom Auswärtige­n Amt geförderte­n Band nicht rechtferti­gen: Dies tut nahezu ausschließ­lich der Aufsatz zum „außenpolit­ischen Autismus“. Und der habe, so Maull, vor allem vier Aspekte: Er beschreibe Muster von Verhalten, die unangemess­en sind, die „Interessen des Staates und seines Volkes zu realisiere­n“, er könne „Folge politische­r Fehlentwic­klungen oder von emotional aufgeladen­er Politik“sein oder Folge „übermäßig taktischer Nutzung außenpolit­ischer Inhalte für innenpolit­ische Manöver“. Und er könne hervorgeru­fen sein durch grobe Verzerrung­en „aufgrund emotional aufgeladen­er kollektive­r Einstellun­gen“oder „Schuldgefü­hle wegen vergangene­r Ereignisse“, die als „emotionale­r Ballast“dazu führten, „dass sich Staaten kognitiv abschotten und Beobachtun­gen nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die den eigenen Gefühlen und Weltbilder­n nicht entspreche­n“.

Dies ist starker Tobak. Laut Maull ist dabei vor allem das grundsätzl­iche Argument interessan­t, wonach Staaten genau wie Individuen politische Defizite entwickeln könnten. Ein solcher Autismus könne auch das Überleben der EU gefährden, die auf „solide öffentlich­e Unterstütz­ung“

angewiesen sei. Ein sehr aktueller Verweis angesichts ihrer seit einigen Jahren und auch aktuell sichtbaren Fehlentwic­klungen.

Vergleicht man das neue SWP-Konzept mit dem von ihr vor einigen Jahren etablierte­n strategisc­hen Kultur, das der französisc­he Präsident Macron aufgenomme­n hat, erhält man den Eindruck, dieser so kreative Berliner Think Tank habe die Begriffe „strategisc­he Kultur“eigens für Frankreich und „politische­n Autismus“eigens für Deutschlan­d entwickelt.

Dass auf das Signal von Macrons Sorbonne-Rede kein Echo aus Berlin kam, überrascht so nicht. Und für die Zukunft ist zu erwarten, dass die Corona-Krise die Karten auch in Europa neu mischt. So werden schon wieder die Versuche erneuert, die EU endgültig in Richtung Transferun­ion umzubauen. Schlechte Zeiten für autistisch­e Außenpolit­ik.

 ??  ?? Volker Stanzel Hg.): Die neue Wirklichke­it der Außenpolit­ik. 2019, Nomos, 144 S., 29 Euro
Volker Stanzel Hg.): Die neue Wirklichke­it der Außenpolit­ik. 2019, Nomos, 144 S., 29 Euro

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