Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Autistische deutsche Außenpolitik
Ein provokativer Aufsatz würzt einen sonst eher betulichen Sammelband.
Internationale Organisationen haben sich bei der Bekämpfung der Corona-Krise bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das gilt für die Weltgesundheitsorganisation, das gilt für die Europäische Union (EU). Die Corona-Krise wird national oder regional bekämpft, nicht weltweit koordiniert, und das gilt auch für die EU.
In Deutschland zählen die Außenund Europapolitik nicht gerade zu den Stärken des Landes. Hier herrschen moralisierende Vorstellungen von internationaler Politik. Glaubt man der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem wohl wichtigsten deutschen außenpolitischen Think Tank, dann handelt es sich dabei um „außenpolitischen Autismus“. So sieht es Hanns Maull, seines Zeichens Senior der SWP. Sein jüngster Aufsatz zum Thema hat es in sich, erschienen ist er im Sammelband von Volker Stanzel „Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik. Diplomatie im 21. Jahrhundert“.
Ganz so neu ist diese Wirklichkeit zwar nicht, wie die zehn Aufsätze des Sammelbandes zeigen: Hinweise in den meisten Beiträgen, dass sich Außenpolitik durch neue Akteure, Digitalisierung und größere Öffentlichkeiten geändert hat, kann diesen vom Auswärtigen Amt geförderten Band nicht rechtfertigen: Dies tut nahezu ausschließlich der Aufsatz zum „außenpolitischen Autismus“. Und der habe, so Maull, vor allem vier Aspekte: Er beschreibe Muster von Verhalten, die unangemessen sind, die „Interessen des Staates und seines Volkes zu realisieren“, er könne „Folge politischer Fehlentwicklungen oder von emotional aufgeladener Politik“sein oder Folge „übermäßig taktischer Nutzung außenpolitischer Inhalte für innenpolitische Manöver“. Und er könne hervorgerufen sein durch grobe Verzerrungen „aufgrund emotional aufgeladener kollektiver Einstellungen“oder „Schuldgefühle wegen vergangener Ereignisse“, die als „emotionaler Ballast“dazu führten, „dass sich Staaten kognitiv abschotten und Beobachtungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen, die den eigenen Gefühlen und Weltbildern nicht entsprechen“.
Dies ist starker Tobak. Laut Maull ist dabei vor allem das grundsätzliche Argument interessant, wonach Staaten genau wie Individuen politische Defizite entwickeln könnten. Ein solcher Autismus könne auch das Überleben der EU gefährden, die auf „solide öffentliche Unterstützung“
angewiesen sei. Ein sehr aktueller Verweis angesichts ihrer seit einigen Jahren und auch aktuell sichtbaren Fehlentwicklungen.
Vergleicht man das neue SWP-Konzept mit dem von ihr vor einigen Jahren etablierten strategischen Kultur, das der französische Präsident Macron aufgenommen hat, erhält man den Eindruck, dieser so kreative Berliner Think Tank habe die Begriffe „strategische Kultur“eigens für Frankreich und „politischen Autismus“eigens für Deutschland entwickelt.
Dass auf das Signal von Macrons Sorbonne-Rede kein Echo aus Berlin kam, überrascht so nicht. Und für die Zukunft ist zu erwarten, dass die Corona-Krise die Karten auch in Europa neu mischt. So werden schon wieder die Versuche erneuert, die EU endgültig in Richtung Transferunion umzubauen. Schlechte Zeiten für autistische Außenpolitik.