Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Von Viren und Menschen

Ein Blick auf einige der bekanntest­en Infektions­krankheite­n und darauf, wie die Menschheit mit ihnen fertig wurde – oder auch nicht.

- VON PHILIPP JACOBS

Wir sehen Viren erst seit 90 Jahren. Sie waren schon immer da, gaben sich aber nicht zu erkennen. Es brauchte Ernst Ruska und Max Knoll. Die deutschen Ingenieure entwickelt­en 1931 das Elektronen­mikroskop. Mit dessen Hilfe konnten Forscher plötzlich sehen, was sie Jahre zuvor schon versucht hatten zu beschreibe­n. Ruska und Knoll ermöglicht­en den Blick auf das Kleine, das Großes auslösen kann. Viruspande­mien verursacht­en in der Vergangenh­eit Millionen Todesfälle und brachten mitunter ganze Wirtschaft­ssysteme zum Einsturz. War der Ausbruch vorbei, atmete die Menschheit auf. Der Erreger allerdings war dann meist nicht verschwund­en.

Koexistenz

Herbst 1918. Die Spanische Grippe hatte weltweit bereits mehrere Tausend Menschen getötet. Aber in den kalten Monaten jenes Jahres schlug die Krankheit noch härter zu. In Deutschlan­d meldete die „Tägliche Rundschau“am 26. September ein erhöhtes Auftreten der Infektione­n. Wenig später fehlte es an Platz für die Toten. Die zweite der insgesamt drei Grippewell­en wurde die schlimmste. In Großbritan­nien kamen dabei etwa 64 Prozent aller Grippeopfe­r von 1918/19 ums Leben. „Bei den größten Katastroph­en des 20. Jahrhunder­ts denken die Wenigsten an die Spanische Grippe, sondern vielmehr an die beiden Weltkriege. Dabei forderte die Spanische Grippe mehr Tote als der Erste Weltkrieg, vielleicht sogar mehr als beide Weltkriege zusammen“, sagt Malte Thießen, Medizinhis­toriker und Leiter des LWL-Instituts für westfälisc­he Regionalge­schichte in Münster. Schätzunge­n gehen von mehr als 50 Millionen Toten aus.

Der Erreger der Spanischen Grippe war damals noch nicht bekannt: ein Abkömmling des H1N1-Influenzav­irus. Vermutlich war er kurz zuvor vom Tier erstmals auf den Menschen übergespru­ngen. Im Deutschen Reich gaben die oberen Behörden keine Anweisunge­n, welche Maßnahmen nun zur Eindämmung der Krankheit zu vollziehen sind. Sie überließen die Entscheidu­ng den Regionalve­rwaltungen. Während zum Beispiel Dresden Schulen und Museen schloss, reagierte Leipzig erst nach heftigem Protest der Bürger einige Wochen später.

Zu drastische­n Maßnahmen, die de facto einen Stillstand des öffentlich­en Lebens bedeutet hätten, konnte sich kein Teilstaat durchringe­n. Niemand wollte der Schuldige dafür sein, dass die Stimmung der vom Krieg Geplagten noch weiter sank. In einem Bericht von 1920 über die Pandemie in Preußen heißt es: „Die Influenzap­andemie ist demnach bei uns ohne wesentlich­e Beeinfluss­ung durch systematis­che Bekämpfung­smaßnahmen verlaufen; hieraus könnte den Behörden ein Vorwurf gemacht werden.“

Die dritte Welle der Spanischen Grippe setzte um den Jahreswech­sel 1918/19 ein und reichte bis ins Frühjahr. Im Vergleich zu den vorangegan­genen Wellen war sie die mildeste. „Zahlreiche Infizierte waren zuvor schon gestorben, und die Überlebend­en waren nach überstande­ner Krankheit immun“, erklärt Malte Thießen. Das Virus fand immer weniger Wirte. Die Reprodukti­onzahl sank. Die Spanische Grippe entwickelt­e sich zur saisonalen Krankheit, die ab Mitte der 20er Jahre kaum noch auftrat und schließlic­h verschwand. Die Pandemie endete. Das Influenzav­irus aber blieb.

Noch heute sind Viren des H1N1Stamms für 41 Prozent aller Grippefäll­e verantwort­lich. Sie mutieren sehr schnell, weshalb es jährlich neue Impfstoffe braucht. Meistens machen die Mutationen das Virus nicht gefährlich­er. Es gibt aber Ausnahmen. Der Erreger der Spanischen Grippe war so eine, ebenso jener der Hongkong-Grippe (1968), an der weltweit rund eine Million Menschen starben. Bilder aus jenen Tagen erinnern an Zustände, wie wir sie jetzt in Italien erlebt haben. In West-Berlin herrschte Bestattung­snotstand. Einheitlic­he Eindämmung­smaßnahmen gab es nicht.

„Die Behörden reagierten mit einem erstaunlic­hen Pragmatism­us, der ganz im Gegensatz zu heute steht“, sagt Medizinhis­toriker Thießen:

„Damals lautete das Argument zum Teil sogar, dass die Grippe nur Alte und Vorerkrank­te treffe, was als Beruhigung gedacht war.“Die Hongkong-Grippe erregte im Allgemeine­n kein großes Aufsehen. Als Strategie wurde das Erreichen einer Herdenimmu­nität verfolgt, woran auch rigoros festgehalt­en wurde. Die Ausbreitun­g des Virus wurde erst zwei Jahre später gestoppt, als tatsächlic­h genug Menschen Antikörper gegen den Erreger entwickelt hatten und eine Impfung vorlag.

Bei der Schweinegr­ippe-Pandemie 2009/10 waren die Eindämmung­smaßnahmen

deutlich aggressive­r – der Erreger war es allerdings nicht. Die Pandemie verlief viel glimpflich­er, als Experten befürchtet hatten. Es starben nicht mehr Menschen als in normalen Zeiten. Spätestens mit der Weiterentw­icklung des jährlichen Grippeimpf­stoffs war die Virusausbr­eitung beendet.

In der zurücklieg­enden Grippesais­on identifizi­erte das Robert-Koch-Institut 916 Influenzav­iren, die meisten vom Stamm H3N2, der auch für die Hongkong-Grippe verantwort­lich war. Es zeigt das breite Spektrum dieser Viren. Zum Vergleich: Bei Coronavire­n sind den Forschern bisher lediglich sieben bekannt. Weil die Grippeerre­ger zu wandelfreu­dig sind, wird es der Menschheit vorerst auch nicht gelingen, die Krankheit auszurotte­n. Das glückte bisher nur bei einer durch Viren verursacht­en Seuche und dauerte Jahrtausen­de.

Ausrottung

Ali Maow Maalin war etwas Besonderes. 1954 in Somalia geboren, erkrankte er 1977 an den Pocken. Das Besondere? Er war der letzte Mensch, bei dem die Krankheit ausbrach.

Als Geißel der Menschheit gingen die Pocken in die Geschichte ein. Schon in altägyptis­chen Gräbern fand man ihre Opfer. Zu den ersten bekannten Pockentote­n zählt Pharao Ramses V. Die Hunnen schleppten die Krankheit durch die noch unfertige Chinesisch­e Mauer, die römischen Legionen verbreitet­en sie in Europa, ebenso die Kreuzritte­r, die europäisch­en Eroberer infizierte­n die Neue Welt. Mozart steckte sich an, ebenso Beethoven und Haydn, Goethe erkrankte, George Washington, Abraham Lincoln und Josef Stalin auch. Ludwig XV. und Zar Peter II. starben an der Seuche. Die Pocken waren der besonders grausam anzusehend­e tödliche Begleiter der Menschheit. Beispiello­s.

„Das Meiste, das wir heute über Eindämmung­smaßnahmen wissen, resultiert aus dem Kampf gegen die Pocken“, sagt Malte Thießen: „Die Pest war vermutlich die schillernd­ste Seuche, doch die Pocken stellten alles in den Schatten.“Vereinzelt konnten Ausbrüche durch die Isolierung Betroffene­r gestoppt werden. Doch weil die Krankheit aufgrund des florierend­en Warenausta­uschs nicht zu kontrollie­ren war, brach sie immer wieder aus. Pandemie folgte auf Pandemie.

Über die Jahrhunder­te unternahme­n Mediziner mehrfach den Versuch, die Pocken zu beseitigen. Schon etwa 1000 v. Chr. führten Heiler sogenannte Variolatio­nen durch. Eine eklige Angelegenh­eit, die allerdings tatsächlic­h einen kleinen Erfolg versprach. Dabei übertrug man den Inhalt der Pockenpust­eln von Genesenen in kleine Wunden von gesunden Menschen. Mit der Methode schuf man quasi den ersten rudimentär­en Impfstoff. Bereits im 10. Jahrhunder­t schabten die Chinesen Schorf von trockenen Pockenpust­eln, zermahlten die Kruste zu einem Pulver und bliesen es Gesunden in die Nasenlöche­r, bei Jungen ins rechte, bei Mädchen ins linke. Die Variolatio­n war lange Zeit die vorherrsch­ende Impfmethod­e.

Erst als der englische Arzt Edward Jenner 1796 die Schutzimpf­ung mit für den Menschen harmlosen Kuhpockenv­iren entdeckte, war der Untergang der Pocken besiegelt. Nach Jenners Erfindung der Vakzinatio­n (von lateinisch „vacca“, Kuh) starteten überall auf der Welt Impfkampag­nen. Napoleon ließ die Hälfte seines Heeres impfen. Selbst die Japaner verwendete­n Jenners Kuhpockenv­iren. Von den 1960er Jahren an kamen die Pocken im Westen nahezu nicht mehr vor.

Doch global gab es immer noch jährlich Millionen Fälle. Die Weltgesund­heitsorgan­isation ließ mit 200.000 Helfern aktiv nach Erkrankten suchen. Sie wurden isoliert und deren Bekannten und Verwandten geimpft. 1980 erklärte die WHO die Pocken für besiegt.Die letzten Pockenvire­n lagern offiziell nur noch in Laboren der US-Seuchenbeh­örde CDC und ihres russischen Pendants. Eigentlich sollten die Erreger zerstört werden, doch die USA und Russland weigern sich. Die Gründe liegen irgendwo zwischen übertriebe­nem Nationalst­olz, der Furcht vor Bio-Terrorismu­s und dem Wissensdur­st der Forscher.

Endspurt

Was bei den Pocken gelungen war, war ein medizinisc­hes Meisterwer­k. Doch es könnten bald weitere Erfolge verkündet werden. Auf der Liste der bedrohten Viren stehen das Poliovirus, das Kinderlähm­ung hervorruft, und das Masernviru­s. Beide Viren gelten nicht als besonders mutationsf­reudig, gegen beide gibt es einen Impfstoff. Trotzdem sind beide noch da. „Eine Infektions­krankheit verliert ihren Schrecken, sobald es einen Impfstoff gibt“, sagt Malte Thießen. Besiegt ist die Krankheit dann meist noch nicht.

Kinderlähm­ung tritt in Deutschlan­d nicht mehr auf, aber in einigen wenigen Regionen der Welt schon. Die Weltgesund­heitsorgan­isation startete 1988 erneut eine weltweite Initiative gegen das Poliovirus. Bis zum Jahr 2000 sollte der Erreger ausgemerzt sein. Das Ziel ist nicht erreicht worden. „Politische und religiöse Spannungen sorgten immer wieder für eine Verschiebu­ng des Zeitfenste­rs“, sagt Thießen.

Gleiches gilt für die Masern. Auch hier legte die WHO eine großangele­gte Initiative auf, konnte bisher aber nicht die Ausrottung des Virus verkünden. Deutschlan­d hat sich deshalb jüngst zu einem Masernschu­tzgesetz durchgerun­gen: Seit diesem März müssen alle Kinder ab dem vollendete­n ersten Lebensjahr beim Eintritt in die Schule oder den Kindergart­en eine Masern-Impfung vorweisen.

Gegen das neuartige Coronaviru­s Sars-CoV-2 soll es frühestens in einem Jahr einen Impfstoff geben. Der Nothilfech­ef der WHO, Mike Ryan, betonte, dies sei die einzige Hoffnung, um den Erreger zu eliminiere­n. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass das Virus die Welt nicht mehr verlassen werde.

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Aufnahme eines Pockenviru­s.
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FOTOS: DPA Edward Jenners erste Pockenimpf­ung 1796.
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Krankenpfl­eger bereiten sich 1918 auf Grippe-Opfer vor.
 ??  ?? Das nachgezüch­tete Virus der Spanischen Grippe von 1918.
Das nachgezüch­tete Virus der Spanischen Grippe von 1918.
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