Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Gelegenheit zum Streit
Die Corona-Pandemie hat das Leben innerhalb weniger Wochen radikal verändert. Es gibt also viel zu bereden – wir haben Menschen mit völlig unterschiedlicher Meinung und sehr unterschiedlichem Hintergrund miteinander ins Gespräch gebracht.
DÜSSELDORF Diese Erfahrung hat fast jeder schon einmal gemacht: Wenn man persönlich und in Ruhe mit jemandem spricht, der eine völlig andere Meinung hat, versteht man ihn plötzlich viel besser. Meistens ist man anschließend immer noch unterschiedlicher Ansicht. Aber die Beweggründe des Gegenübers zu verstehen, ist schon ein wichtiger erster Schritt. Doch viele von uns kommen in ihrem Alltag nur selten mit Menschen ins Gespräch, die auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen oder eine völlig andere Lebensrealität haben. In Zeiten von Corona und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen gilt das mehr denn je – dabei muss gerade jetzt in der Krise vieles neu verhandelt werden, was vor wenigen Monaten noch als selbstverständlich galt. Unsere Redaktion, die „Zeit“und andere Medien haben deshalb ihre Leser dazu aufgerufen, in die Debatte einzusteigen. Das Konzept der Aktion „Deutschland spricht“: Jeder Teilnehmer musste sieben Fragen zur Corona-Krise beantworten.
• Hat die Bundesregierung richtig auf die Corona-Krise reagiert?
• Sind die Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung des Coronavirus verhältnismäßig?
• Sollte der Datenschutz gelockert werden, um Infektionsketten schneller verfolgen zu können?
• Fühlen Sie sich in der Corona-Krise ausreichend und transparent informiert?
• Sollte Online-Unterricht auch nach der Pandemie ein fester Bestandteil des Lehrplanes an Schulen bleiben?
• Sollten in der Corona-Krise für jüngere und ältere Menschen dieselben Einschränkungen gelten?
• Halten Sie die bundesweite Maskenpflicht für richtig?
Ein Algorithmus wertete die Antworten anschließend aus und brachte deutschlandweit Gesprächspartner zusammen, die möglichst alle Fragen gegenteilig beantwortet hatten. Diese Paare waren dann aufgerufen, sich zu einem Video-Gespräch zu verabreden. Mehrere Tausend Menschen aus ganz Deutschland machten bei der Aktion mit. „Deutschland spricht“hat bereits Tradition – doch diesmal waren die Bedingungen ganz besondere. Zum ersten Mal hatte die „Zeit“vor der Bundestagswahl 2017 Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zum Gespräch zusammengebracht. Damals trafen sich die Teilnehmer persönlich, zum Beispiel auf einen Kaffee im Café um die Ecke. Diesmal fand die Aktion wegen des Coronavirus online statt, per Videoschalte.
Wir haben die Antworten der gut 1300 Teilnehmer aus NRW, die an der Aktion teilgenommen haben, ausgewertet. Sie zeigen, welche Fragen die Gesellschaft in Zeiten der Corona-Krise spalten.
Das umstrittenste Thema: der Datenschutz. Bei der Frage „Sollte der Datenschutz gelockert werden, um Infektionsketten schneller verfolgen zu können?“haben 46 Prozent der Teilnehmer aus NRW mit „Ja“geantwortet, 54 Prozent mit „Nein“. Hintergrund der Frage ist die Diskussion um Corona-Apps, mit denen sich Infektionsketten nachvollziehen lassen. Die größte Einigkeit herrscht bei der Frage, ob die Bundesregierung richtig auf die Krise reagiert hat: Hier haben 69 Prozent der Teilnehmer aus NRW mit „Ja“geantwortet, 29 Prozent mit „Nein“. 66 Prozent der Befragten halten die Einschränkungen des öffentlichen Lebens im Kampf gegen das Coronavirus für verhältnismäßig – 44 Prozent sehen das anders. Recht klar fällt das Votum auch bei der Frage nach der Maskenpflicht in Teilen des öffentlichen Raums aus: 63 Prozent sind damit einverstanden, nur 37 Prozent lehnen die Verordnung ab.
Am vergangenen Sonntag dann fanden die Diskussionen der „Deutschland spricht“-Teilnehmer statt. Wir haben drei Gespräche dokumentiert.
„Du denkst, dass deine Generation die nächsten 30 Jahre zahlen muss“
Stephanie Junge aus Haan und Till Keul aus Heidelberg sprechen über den Generationenkonflikt in Corona-Zeiten.
Demografisch könnten Stephanie Junge und Till Keul unterschiedlicher kaum sein: Sie ist 60 und arbeitet als Dramaturgin in Haan, er ist 22 und Student aus Heidelberg. Auch ihre politischen Ansichten gehen weit auseinander. Alle sieben Fragen haben sie unterschiedlich beantwortet.
Dass beide Diskutanten einander ernst nehmen, wird schon zu Beginn der Unterhaltung klar. Keul findet, dass die Bundesregierung viel zu langsam verstanden hat, wie ernst die Lage eigentlich ist. Großveranstaltungen wie beispielsweise der Fasching in Bayern wurden nicht abgesagt, Urlauber durften weiterhin um die Welt reisen. Er habe sich schon früh eine Maske besorgt, sei mit Desinfektionsmittel in die Uni gefahren. „Viele meiner Kommilitonen fanden das übertrieben und haben mich belächelt“, sagt er.
Obwohl sie mit der Maskenpflicht nicht einverstanden sei, könne sie seinen Standpunkt gut nachvollziehen, sagt Lange. Trotzdem wünsche sie sich ein wenig Nachsicht: „Informationen sind etwas prozesshaftes. Jeden Tag haben wir neue Erkenntnisse, dann überlegen wir und gehen einen Schritt weiter. Das hätte man damals nicht voraussehen können“, sagt sie.
Während Lange sich am meisten Sorgen um die Entsolidarisierung der Gesellschaft macht, stehen für Keul die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise im Mittelpunkt. Eine Neuverschuldung von 156 Milliarden Euro, 300.000 zusätzliche Arbeitslose und zehn Millionen Kurzarbeiter — das seien Auswirkungen, mit denen Deutschland sich noch lange auseinandersetzen müsse. Die 60-jährige Dramaturgin sieht das gelassener: „Auf mich wirkt das weniger bedrohlich, das liegt wahrscheinlich an meinem
Alter. Du denkst, dass deine Generation die nächsten 30 Jahre zahlen muss. Aber auch wir haben hohe Schuldensummen abgetragen, die schwarze Null, das sind auch meine 30 Jahre Berufsleben“, sagt sie. Interessant finde sie, dass die Haltung zur Corona-Krise viel damit zu tun habe, wo man im Leben gerade stehe. Dass Alter, Wohnort, Geschlecht und finanzielle Lage maßgeblich dazu beitrügen, wie sich jeder Einzelne positioniere.
„Auch wenn ich komplett anderer Auffassung bin, heißt das nicht, dass ich recht habe. So hundertprozentig sicher können wir uns ja gerade alle nicht sein“, sagt Keul. (Protokoll: Danina Esau)
„Man wird schnell angegriffen und in eine bestimmte Ecke gestellt“
Marcel Fischer (42) aus Kulmbach und Andreas Maxbauer (60) aus Düsseldorf reden über „Silo-Denken“.
Die prägende Geste im Gespräch zwischen Andreas Maxbauer und Marcel Fischer ist das Nicken. „Es gab einen Grundkonsens“, sagt Marcel Fischer nach dem Gespräch. Eine überraschende Bilanz. Auch Maxbauer und Fischer haben alle Fragen jeweils gegenteilig beantwortet. Doch ihr Treffen per Videoschalte am Sonntagnachmittag beweist: Das heißt nicht, dass aus einem Gespräch ein Streitgespräch werden muss.
Marcel Fischer ist 42 Jahre alt, er wohnt im fränkischen Kulmbach, arbeitet im Online-Marketing. Maxbauer, 60 Jahre, wohnt in Düsseldorf. Er arbeitet als Grafiker.
Fischer sagt, er befürchte, dass der Gesellschaft der Austausch miteinander fehle, „dass wir immer sehr so ein Silo-Denken haben“. Das sehe er auch an der Diskussion über das Coronavirus. Man werde sehr schnell angegriffen und in eine bestimmte Ecke gestellt, wenn man eine kritische Meinung äußere. Das habe sich schon in der Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, und das zeige sich auch jetzt wieder, sagt Fischer. „Da sehe ich die Gefahr, wenn wir der politischen Debatte zu sehr aus dem Weg gehen, dann wird Raum freigegeben für Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker“, sagt Fischer. Diese umgäben sich dann mit Leuten aus der Mitte. „Damit laufen wir Gefahr, unsere Gesellschaft zu teilen“. Gerade deshalb seien Gespräche wie dieses wichtig. Maxbauer stimmt ihm zu.
Ein paar Streitpunkte gibt es aber doch. Unterschiedlicher Meinung sind die beiden Männer etwa bei der Frage, ob für alle Bevölkerungsgruppen in der Corona-Krise dieselben Einschränkungen gelten sollen. Fischer findet, dass man darüber nachdenken sollte, Risikogruppen, also primär ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen, zu isolieren. Maxbauer nicht, ihn erinnert diese Herangehensweise an Selektion. „Das hat in Deutschland gute Tradition, das haben wir vor 75 Jahren schon so gemacht“, hält der Grafiker seinem Gesprächspartner entgegen. Außerdem, meint er, seien ältere Menschen nicht die wirkliche Risikogruppe, sondern die, die jetzt als systemrelevant gelten: „die Niedriglöhner“, die Verkäufer, die Frisöre. „Mit so etwas wie Selektion wäre ich vorsichtig“, sagt Maxbauer, „weil dann relativ schnell die Frage kommt: Wer ist denn hier eigentlich die Risikogruppe?“
Einig sind sich beide darin, dass die Corona-Krise eine Gefahr für die westliche Demokratie mit sich bringe. Das Risiko sei, dass China zum großen Profiteur werde, dass die westlichen Länder immer stärker von China abhängig würden, sagt Marcel Fischer. Die Gefahr sieht Maxbauer nicht ganz so akut, „aber wir müssen das genau beobachten“.
„Wir haben eine Menge Gemeinsamkeiten“, bilanziert Maxbauer am Ende der Diskussion. Das zeigt sich auch, wenn sich das Gespräch von Corona wegbewegt. Fischer ist SPD-Mitglied, Maxbauer war es für viele Jahist re, letztendlich ausgetreten. Und so sprechen sie auch mehr als zehn Minuten lang darüber, was die SPD tun könnte, um wieWähler der zu gewinnen.
Als sich das Gesprächsende abzeichnet, reFischer den und Maxbauer über Kulmbach und Brauereien in der fränkischen Stadt. „Du kannst da echt schön eine Woche in der Region zubringen“, sagt Fischer, „dann können wir uns auf ein Bierchen treffen. Maxbauer nickt. „Gerne.“(Protokoll: Eirik Sedlmair)
„Ich habe Angst, dass es bald nicht mehr reicht, nur an die Leute zu appellieren“Journalistenschülerin Maren Könemann hat selbst an der Aktion teilgenommen. Sie sprach mit Leonie Burgard, 26, aus Ostfildern in Baden-Württemberg.
Meine Gesprächspartnerin Leonie findet – im Gegensatz zu mir –, dass man in der Corona-Krise den Datenschutz unter Umständen lockern sollte, um Infektionsketten schneller verfolgen zu können. Sie findet auch, dass Online-Unterricht nach der Pandemie kein fester Bestandteil des Lehrplans werden sollte. Ich sehe das anders. In den restlichen fünf Fragen zum Thema Corona sind wir gleicher Meinung. Aus diesen Informationen habe ich mir also mein Bild gemacht, das ich jetzt einem Realitätscheck unterziehe.
„Hallo Leonie! Ja cool … Schön, dass das geklappt hat!“, ist das, was ich rausbringe, als ich sie das erste Mal sehe. Leonie sitzt an ihrem Schreibtisch und grüßt sehr nett durch den Bildschirm meines Laptops zurück. Erste Hürde geschafft. Wie vermutlich alle anderen Teilnehmer sprechen wir nun darüber, wer wir denn eigentlich sind. Ich: Aus Düsseldorf, absolviere eine Ausbildung zur Redakteurin bei der Rheinischen Post. Sie: Schreibt ihre Masterarbeit im Fach Ernährungswissenschaften in der Nähe von Stuttgart, kommt ursprünglich aus Hannover. Okay, kann losgehen.
Beim Thema Datenschutz sehen wir die Dinge unterschiedlich. Sollten die strengen Regelungen in Deutschland gelockert werden, um Infektionsketten besser nachverfolgen zu können? Eher nicht, finde ich. „Man sollte mit so etwas gar nicht erst anfangen, auch wenn es extrem verlockend klingt.“Wäre es nicht besser, mehr an die Menschen zu appellieren, die Maßnahmen besser einzuhalten und weiter vorsichtig zu sein? Nein, findet Leonie. „Ich habe Angst, dass es bald nicht mehr reicht, nur an die Leute zu appellieren“, sagt sie. Vielleicht hat sie damit recht, denke ich mir. „Ich habe das Gefühl, dass so viel Müdigkeit da ist. Ich denke, dass im Nachverfolgen von Infektionsketten sehr viel Potential steckt, um die Pandemie einzudämmen. Die Daten müssten natürlich extrem gut verschlüsselt und geschützt sein.“
Und dann geht es um Glauben. Der gibt Leonie gerade jetzt in der Krise Hoffnung, wie sie mir gegen Ende unseres eineinhalbstündigen Gesprächs erzählt. „Der Blick auf Gott, der so allmächtig ist, beruhigt mich, weil im Anbetracht seiner Größe das Ausmaß und die Gewalt der Corona-Krise ein stückweit relativiert wird. Weil Gott einfach so, so viel größer ist.“Ein interessanter Gedanke, finde ich. Ich, die auf die Frage, was mir in der Corona-Krise denn Sorgen mache, nur eine egoistische „Meine Reisefreiheit soll nicht so lange eingeschränkt bleiben“-Antwort ins Anmeldeformular getippt hatte. Am liebsten hätte ich meine Antwort gleich wieder gelöscht und etwas Positives und Optimisches eingefügt, so wie Leonie.