Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Gelegenhei­t zum Streit

Die Corona-Pandemie hat das Leben innerhalb weniger Wochen radikal verändert. Es gibt also viel zu bereden – wir haben Menschen mit völlig unterschie­dlicher Meinung und sehr unterschie­dlichem Hintergrun­d miteinande­r ins Gespräch gebracht.

- VON JUDITH CONRADY

DÜSSELDORF Diese Erfahrung hat fast jeder schon einmal gemacht: Wenn man persönlich und in Ruhe mit jemandem spricht, der eine völlig andere Meinung hat, versteht man ihn plötzlich viel besser. Meistens ist man anschließe­nd immer noch unterschie­dlicher Ansicht. Aber die Beweggründ­e des Gegenübers zu verstehen, ist schon ein wichtiger erster Schritt. Doch viele von uns kommen in ihrem Alltag nur selten mit Menschen ins Gespräch, die auf der anderen Seite des politische­n Spektrums stehen oder eine völlig andere Lebensreal­ität haben. In Zeiten von Corona und den damit verbundene­n Kontaktbes­chränkunge­n gilt das mehr denn je – dabei muss gerade jetzt in der Krise vieles neu verhandelt werden, was vor wenigen Monaten noch als selbstvers­tändlich galt. Unsere Redaktion, die „Zeit“und andere Medien haben deshalb ihre Leser dazu aufgerufen, in die Debatte einzusteig­en. Das Konzept der Aktion „Deutschlan­d spricht“: Jeder Teilnehmer musste sieben Fragen zur Corona-Krise beantworte­n.

• Hat die Bundesregi­erung richtig auf die Corona-Krise reagiert?

• Sind die Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens zur Eindämmung des Coronaviru­s verhältnis­mäßig?

• Sollte der Datenschut­z gelockert werden, um Infektions­ketten schneller verfolgen zu können?

• Fühlen Sie sich in der Corona-Krise ausreichen­d und transparen­t informiert?

• Sollte Online-Unterricht auch nach der Pandemie ein fester Bestandtei­l des Lehrplanes an Schulen bleiben?

• Sollten in der Corona-Krise für jüngere und ältere Menschen dieselben Einschränk­ungen gelten?

• Halten Sie die bundesweit­e Maskenpfli­cht für richtig?

Ein Algorithmu­s wertete die Antworten anschließe­nd aus und brachte deutschlan­dweit Gesprächsp­artner zusammen, die möglichst alle Fragen gegenteili­g beantworte­t hatten. Diese Paare waren dann aufgerufen, sich zu einem Video-Gespräch zu verabreden. Mehrere Tausend Menschen aus ganz Deutschlan­d machten bei der Aktion mit. „Deutschlan­d spricht“hat bereits Tradition – doch diesmal waren die Bedingunge­n ganz besondere. Zum ersten Mal hatte die „Zeit“vor der Bundestags­wahl 2017 Menschen mit unterschie­dlichen Ansichten zum Gespräch zusammenge­bracht. Damals trafen sich die Teilnehmer persönlich, zum Beispiel auf einen Kaffee im Café um die Ecke. Diesmal fand die Aktion wegen des Coronaviru­s online statt, per Videoschal­te.

Wir haben die Antworten der gut 1300 Teilnehmer aus NRW, die an der Aktion teilgenomm­en haben, ausgewerte­t. Sie zeigen, welche Fragen die Gesellscha­ft in Zeiten der Corona-Krise spalten.

Das umstritten­ste Thema: der Datenschut­z. Bei der Frage „Sollte der Datenschut­z gelockert werden, um Infektions­ketten schneller verfolgen zu können?“haben 46 Prozent der Teilnehmer aus NRW mit „Ja“geantworte­t, 54 Prozent mit „Nein“. Hintergrun­d der Frage ist die Diskussion um Corona-Apps, mit denen sich Infektions­ketten nachvollzi­ehen lassen. Die größte Einigkeit herrscht bei der Frage, ob die Bundesregi­erung richtig auf die Krise reagiert hat: Hier haben 69 Prozent der Teilnehmer aus NRW mit „Ja“geantworte­t, 29 Prozent mit „Nein“. 66 Prozent der Befragten halten die Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens im Kampf gegen das Coronaviru­s für verhältnis­mäßig – 44 Prozent sehen das anders. Recht klar fällt das Votum auch bei der Frage nach der Maskenpfli­cht in Teilen des öffentlich­en Raums aus: 63 Prozent sind damit einverstan­den, nur 37 Prozent lehnen die Verordnung ab.

Am vergangene­n Sonntag dann fanden die Diskussion­en der „Deutschlan­d spricht“-Teilnehmer statt. Wir haben drei Gespräche dokumentie­rt.

„Du denkst, dass deine Generation die nächsten 30 Jahre zahlen muss“

Stephanie Junge aus Haan und Till Keul aus Heidelberg sprechen über den Generation­enkonflikt in Corona-Zeiten.

Demografis­ch könnten Stephanie Junge und Till Keul unterschie­dlicher kaum sein: Sie ist 60 und arbeitet als Dramaturgi­n in Haan, er ist 22 und Student aus Heidelberg. Auch ihre politische­n Ansichten gehen weit auseinande­r. Alle sieben Fragen haben sie unterschie­dlich beantworte­t.

Dass beide Diskutante­n einander ernst nehmen, wird schon zu Beginn der Unterhaltu­ng klar. Keul findet, dass die Bundesregi­erung viel zu langsam verstanden hat, wie ernst die Lage eigentlich ist. Großverans­taltungen wie beispielsw­eise der Fasching in Bayern wurden nicht abgesagt, Urlauber durften weiterhin um die Welt reisen. Er habe sich schon früh eine Maske besorgt, sei mit Desinfekti­onsmittel in die Uni gefahren. „Viele meiner Kommiliton­en fanden das übertriebe­n und haben mich belächelt“, sagt er.

Obwohl sie mit der Maskenpfli­cht nicht einverstan­den sei, könne sie seinen Standpunkt gut nachvollzi­ehen, sagt Lange. Trotzdem wünsche sie sich ein wenig Nachsicht: „Informatio­nen sind etwas prozesshaf­tes. Jeden Tag haben wir neue Erkenntnis­se, dann überlegen wir und gehen einen Schritt weiter. Das hätte man damals nicht voraussehe­n können“, sagt sie.

Während Lange sich am meisten Sorgen um die Entsolidar­isierung der Gesellscha­ft macht, stehen für Keul die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise im Mittelpunk­t. Eine Neuverschu­ldung von 156 Milliarden Euro, 300.000 zusätzlich­e Arbeitslos­e und zehn Millionen Kurzarbeit­er — das seien Auswirkung­en, mit denen Deutschlan­d sich noch lange auseinande­rsetzen müsse. Die 60-jährige Dramaturgi­n sieht das gelassener: „Auf mich wirkt das weniger bedrohlich, das liegt wahrschein­lich an meinem

Alter. Du denkst, dass deine Generation die nächsten 30 Jahre zahlen muss. Aber auch wir haben hohe Schuldensu­mmen abgetragen, die schwarze Null, das sind auch meine 30 Jahre Berufslebe­n“, sagt sie. Interessan­t finde sie, dass die Haltung zur Corona-Krise viel damit zu tun habe, wo man im Leben gerade stehe. Dass Alter, Wohnort, Geschlecht und finanziell­e Lage maßgeblich dazu beitrügen, wie sich jeder Einzelne positionie­re.

„Auch wenn ich komplett anderer Auffassung bin, heißt das nicht, dass ich recht habe. So hundertpro­zentig sicher können wir uns ja gerade alle nicht sein“, sagt Keul. (Protokoll: Danina Esau)

„Man wird schnell angegriffe­n und in eine bestimmte Ecke gestellt“

Marcel Fischer (42) aus Kulmbach und Andreas Maxbauer (60) aus Düsseldorf reden über „Silo-Denken“.

Die prägende Geste im Gespräch zwischen Andreas Maxbauer und Marcel Fischer ist das Nicken. „Es gab einen Grundkonse­ns“, sagt Marcel Fischer nach dem Gespräch. Eine überrasche­nde Bilanz. Auch Maxbauer und Fischer haben alle Fragen jeweils gegenteili­g beantworte­t. Doch ihr Treffen per Videoschal­te am Sonntagnac­hmittag beweist: Das heißt nicht, dass aus einem Gespräch ein Streitgesp­räch werden muss.

Marcel Fischer ist 42 Jahre alt, er wohnt im fränkische­n Kulmbach, arbeitet im Online-Marketing. Maxbauer, 60 Jahre, wohnt in Düsseldorf. Er arbeitet als Grafiker.

Fischer sagt, er befürchte, dass der Gesellscha­ft der Austausch miteinande­r fehle, „dass wir immer sehr so ein Silo-Denken haben“. Das sehe er auch an der Diskussion über das Coronaviru­s. Man werde sehr schnell angegriffe­n und in eine bestimmte Ecke gestellt, wenn man eine kritische Meinung äußere. Das habe sich schon in der Flüchtling­skrise 2015 gezeigt, und das zeige sich auch jetzt wieder, sagt Fischer. „Da sehe ich die Gefahr, wenn wir der politische­n Debatte zu sehr aus dem Weg gehen, dann wird Raum freigegebe­n für Rechtspopu­listen und Verschwöru­ngstheoret­iker“, sagt Fischer. Diese umgäben sich dann mit Leuten aus der Mitte. „Damit laufen wir Gefahr, unsere Gesellscha­ft zu teilen“. Gerade deshalb seien Gespräche wie dieses wichtig. Maxbauer stimmt ihm zu.

Ein paar Streitpunk­te gibt es aber doch. Unterschie­dlicher Meinung sind die beiden Männer etwa bei der Frage, ob für alle Bevölkerun­gsgruppen in der Corona-Krise dieselben Einschränk­ungen gelten sollen. Fischer findet, dass man darüber nachdenken sollte, Risikogrup­pen, also primär ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrank­ungen, zu isolieren. Maxbauer nicht, ihn erinnert diese Herangehen­sweise an Selektion. „Das hat in Deutschlan­d gute Tradition, das haben wir vor 75 Jahren schon so gemacht“, hält der Grafiker seinem Gesprächsp­artner entgegen. Außerdem, meint er, seien ältere Menschen nicht die wirkliche Risikogrup­pe, sondern die, die jetzt als systemrele­vant gelten: „die Niedriglöh­ner“, die Verkäufer, die Frisöre. „Mit so etwas wie Selektion wäre ich vorsichtig“, sagt Maxbauer, „weil dann relativ schnell die Frage kommt: Wer ist denn hier eigentlich die Risikogrup­pe?“

Einig sind sich beide darin, dass die Corona-Krise eine Gefahr für die westliche Demokratie mit sich bringe. Das Risiko sei, dass China zum großen Profiteur werde, dass die westlichen Länder immer stärker von China abhängig würden, sagt Marcel Fischer. Die Gefahr sieht Maxbauer nicht ganz so akut, „aber wir müssen das genau beobachten“.

„Wir haben eine Menge Gemeinsamk­eiten“, bilanziert Maxbauer am Ende der Diskussion. Das zeigt sich auch, wenn sich das Gespräch von Corona wegbewegt. Fischer ist SPD-Mitglied, Maxbauer war es für viele Jahist re, letztendli­ch ausgetrete­n. Und so sprechen sie auch mehr als zehn Minuten lang darüber, was die SPD tun könnte, um wieWähler der zu gewinnen.

Als sich das Gesprächse­nde abzeichnet, reFischer den und Maxbauer über Kulmbach und Brauereien in der fränkische­n Stadt. „Du kannst da echt schön eine Woche in der Region zubringen“, sagt Fischer, „dann können wir uns auf ein Bierchen treffen. Maxbauer nickt. „Gerne.“(Protokoll: Eirik Sedlmair)

„Ich habe Angst, dass es bald nicht mehr reicht, nur an die Leute zu appelliere­n“Journalist­enschüleri­n Maren Könemann hat selbst an der Aktion teilgenomm­en. Sie sprach mit Leonie Burgard, 26, aus Ostfildern in Baden-Württember­g.

Meine Gesprächsp­artnerin Leonie findet – im Gegensatz zu mir –, dass man in der Corona-Krise den Datenschut­z unter Umständen lockern sollte, um Infektions­ketten schneller verfolgen zu können. Sie findet auch, dass Online-Unterricht nach der Pandemie kein fester Bestandtei­l des Lehrplans werden sollte. Ich sehe das anders. In den restlichen fünf Fragen zum Thema Corona sind wir gleicher Meinung. Aus diesen Informatio­nen habe ich mir also mein Bild gemacht, das ich jetzt einem Realitätsc­heck unterziehe.

„Hallo Leonie! Ja cool … Schön, dass das geklappt hat!“, ist das, was ich rausbringe, als ich sie das erste Mal sehe. Leonie sitzt an ihrem Schreibtis­ch und grüßt sehr nett durch den Bildschirm meines Laptops zurück. Erste Hürde geschafft. Wie vermutlich alle anderen Teilnehmer sprechen wir nun darüber, wer wir denn eigentlich sind. Ich: Aus Düsseldorf, absolviere eine Ausbildung zur Redakteuri­n bei der Rheinische­n Post. Sie: Schreibt ihre Masterarbe­it im Fach Ernährungs­wissenscha­ften in der Nähe von Stuttgart, kommt ursprüngli­ch aus Hannover. Okay, kann losgehen.

Beim Thema Datenschut­z sehen wir die Dinge unterschie­dlich. Sollten die strengen Regelungen in Deutschlan­d gelockert werden, um Infektions­ketten besser nachverfol­gen zu können? Eher nicht, finde ich. „Man sollte mit so etwas gar nicht erst anfangen, auch wenn es extrem verlockend klingt.“Wäre es nicht besser, mehr an die Menschen zu appelliere­n, die Maßnahmen besser einzuhalte­n und weiter vorsichtig zu sein? Nein, findet Leonie. „Ich habe Angst, dass es bald nicht mehr reicht, nur an die Leute zu appelliere­n“, sagt sie. Vielleicht hat sie damit recht, denke ich mir. „Ich habe das Gefühl, dass so viel Müdigkeit da ist. Ich denke, dass im Nachverfol­gen von Infektions­ketten sehr viel Potential steckt, um die Pandemie einzudämme­n. Die Daten müssten natürlich extrem gut verschlüss­elt und geschützt sein.“

Und dann geht es um Glauben. Der gibt Leonie gerade jetzt in der Krise Hoffnung, wie sie mir gegen Ende unseres eineinhalb­stündigen Gesprächs erzählt. „Der Blick auf Gott, der so allmächtig ist, beruhigt mich, weil im Anbetracht seiner Größe das Ausmaß und die Gewalt der Corona-Krise ein stückweit relativier­t wird. Weil Gott einfach so, so viel größer ist.“Ein interessan­ter Gedanke, finde ich. Ich, die auf die Frage, was mir in der Corona-Krise denn Sorgen mache, nur eine egoistisch­e „Meine Reisefreih­eit soll nicht so lange eingeschrä­nkt bleiben“-Antwort ins Anmeldefor­mular getippt hatte. Am liebsten hätte ich meine Antwort gleich wieder gelöscht und etwas Positives und Optimische­s eingefügt, so wie Leonie.

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Stephanie Junge (60) aus Haan und Till Keul (22) aus Heidelberg sind über das Kontaktver­bot unterschie­dlicher Meinung.
 ??  ?? Maren Könemann (27) aus Düsseldorf und Leonie Burgard (26) aus Ostfildern in Baden-Württermbe­rg haben unterschie­dliche Ansichten zum Thema Datenschut­z.
Maren Könemann (27) aus Düsseldorf und Leonie Burgard (26) aus Ostfildern in Baden-Württermbe­rg haben unterschie­dliche Ansichten zum Thema Datenschut­z.
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Marcel Fischer (42) aus Kulmbach und Andreas Maxbauer (60) aus Düsseldorf sind sich einiger, als sie zunächst dachten.
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