Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ohne Hilfe des Bundes mussten die Beiträge erhöht warden"
AOK-Bundeschef Martin Litsch warnt vor der finanziellen Überforderung der Krankenkassen aufgrund der Corona-Krise.
Die Corona-Krise führt dazu, dass weniger Menschen in Arztpraxen oder Notaufnahmen gehen – allein die Zahl der behandelten Herzinfarkte ist nach einer Auswertung Ihres Wissenschaftlichen Instituts seit Mitte März um knapp ein Drittel eingebrochen. Sorgt Sie das?
LITSCH Die Datenbasis dieser ersten Auswertung ist noch wackelig. Aber wir stellen doch fest, dass in Krankenhäusern, aber auch in Arztpraxen, bei Physiotherapeuten und anderen die Nachfrage zum Teil sehr deutlich zurückgegangen ist. Bei Herzinfarkten und Schlaganfällen stellt sich natürlich die Frage: Wie kann das sein? Die Erklärung ist nicht einfach. Möglich ist, dass sich die Patienten zurzeit tatsächlich zu spät in ärztliche Behandlung begeben, weil die Menschen Angst vor Ansteckung haben. Es gibt bestimmt aber auch Fälle, in denen die Symptome in normalen Zeiten zu einer Aufnahme im Krankenhaus geführt hätten, in Corona-Zeiten aber anders bewertet werden.
Vor der Corona-Krise hieß es immer, dass es in Deutschland zu viele Krankenhausbetten gibt. Sehen Sie das nun anders?
LITSCH Das deutsche Gesundheitssystem hat in einem grandiosen Kraftakt die Strukturen so organisiert, dass wir auf den vermuteten Ansturm an Schwerkranken vorbereitet sind. Und wir haben die Krise noch nicht überwunden. Es ist also noch nicht der richtige Zeitpunkt für eine Krankenhausstrukturreform. Wenn wir aber valide Daten zu Corona-Infektionen und -Behandlungen auf dem Tisch haben, werden wir sehen, dass wir eine hohe Flexibilität brauchen, um auf eine Pandemie zur reagieren. Wir werden aber auch sehen, dass wir auf jeden Fall eine Spezialisierung der Krankenhausstruktur benötigen. Denn schon jetzt zeigt sich, dass wir bei Krisenbewältigung vor allem auf erfahrene und gut ausgerüstete Krankenhäuser angewiesen sind. Es ist weiterhin zwingend, eine qualitätsorientierte Krankenhausstruktur zu schaffen.
Haben Sie schon einen Überblick, welche finanziellen Auswirkungen die Corona-Krise für die Krankenkassen hat?
LITSCH Noch haben wir keine akuten Finanzierungsprobleme, weil die Krankenkassen ja über den Gesundheitsfonds Monat für Monat ihre Zuweisungen erhalten und so alle Rechnungen begleichen können. Deshalb spüren wir aktuell noch nicht, dass die Einnahmen aufgrund von Kurzarbeit und steigender Arbeitslosigkeit, geringer werden.
Der Gesundheitsfonds hat aktuell noch eine Rücklage von zehn Milliarden Euro . . .
LITSCH Sie ist schon vor Corona gesunken und wird jetzt für viele weitere Zwecke angezapft. Wir müssen daraus die Intensivbetten zur Beatmung bezahlen, den Schutzschirm für die Heilmittelerbringer, die Testungen und anderes mehr. Dabei müssen wir auch Ausgaben finanzieren, die nicht zum Aufgabenbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören. Andererseits verzeichnen wir vorübergehend auch Minderausgaben, dadurch, dass in den Praxen und Kliniken weniger behandelt wird und der Bettenleerstand vom Bund finanziert wird. Was das unter dem Strich für die Kassen bedeutet, kann ich noch nicht voraussagen.
Dennoch rufen die Kassen nach mehr Geld vom Bund. Warum?
LITSCH
Wir sind uns sehr sicher, dass die Rücklagen im Gesundheitsfonds am Ende nicht ausreichen. Dann muss der Finanzminister Bundesmittel aufbringen. Wir können aber noch nicht beziffern, wie hoch die sein müssen. Ohne weitere Hilfe des Bundes müssten die Beiträge erhöht werden. Dass es diesen Bundeszuschuss geben muss, darin sind wir uns mit dem Gesundheitsminister einig.
Die Kassen sollen nun deutlich mehr Tests auf Corona finanzieren – ist das im Vergleich zu einem Shutdown nicht eine relativ kostengünstige Methode, das Virus in den Griff zu bekommen?
LITSCH Ich schließe mich der Meinung an, dass wir viel testen müssen – auf jeden Fall mehr als heute. Das gilt insbesondere für die Pflegeheime und Krankenhäuser. Dort muss klar sein, dass das Personal nicht das Virus verbreitet. Das ist eine ethische Frage. Es muss aber nicht jeder Bürger ständig getestet werden.
Die Labore jedenfalls sagen, dass sie noch reichlich Kapazität haben, mehr zu testen . . .
LITSCH Das ist richtig. Zu Beginn der Pandemie konnten die Labore ungefähr 30.000 Tests pro Woche auswerten. Mittlerweile sind es 800.000.
Das ist auch ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Es zeigt aber noch etwas: Die Tests sind offensichtlich so gut bezahlt, dass sich der Ausbau der Kapazitäten lohnt. 60 Euro für einen PCR-Test ist ein sehr hoher Preis. Mit dem Anstieg der Menge ist in Marktwirtschaften normalerweise aber auch eine Preissenkung verbunden.
Was würden Sie sagen – 15 Euro pro Corona-Test sind eigentlich genug?
LITSCH Wir müssen auf jeden Fall über den Preis der Tests auf das Corona-Virus verhandeln. Die Labore sollen Geld verdienen können. Es gibt Hinweise, dass sie auch bei einem Test-Preis von 15 Euro noch Gewinn erzielen können. Einen Preis von 60 Euro pro Test können wir nicht finanzieren, wenn künftig pro Woche eine Million Tests stattfinden sollen. Man darf nicht vergessen, dass auch noch eine Vergütung für die Ärzte gezahlt werden muss. Im Übrigen gehören die Tests eigentlich zur Gefahrenabwehr in einer Pandemie, und das ist Aufgabe des Staates, nicht des Beitragszahlers. Die Kassen müssen das Geld also zurückbekommen. Zumal derzeit die gesetzliche Krankenversicherung für alle Tests aufkommen soll. Es ist aber nicht zu erklären, dass die GKV die Kosten der Tests für Privatversicherte übernehmen soll.