Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Keine zweite Chance

Die Urlaubssai­son und die Gefahr einer zweiten Welle bereitet Merkel und den Ministerpr­äsidenten die nächste Sorge. Die Hilfe des Staates ist endlich. Es mangelt an Geduld. Nötig wäre Diziplin. Die fehlt leider.

- VON KRISTINA DUNZ

Sie haben sich gestritten und überworfen und den Laden am Ende nur mühevoll mit dem kleinsten gemeinsame­n Nenner der Kontaktbes­chränkunge­n und Schutzmaßn­ahmen bis zum 29. Juni zusammenge­halten. Aber wenn Angela Merkel und die Ministerpr­äsidenten an diesem Mittwoch erstmals in der Corona-Krise wieder physisch im Kanzleramt zusammenko­mmen, sind sie in einem wieder vereint: in der Sorge über den Sommer, genauer gesagt über die Urlaubssai­son der Deutschen. Im Kanzleramt macht man sich keine Illusionen – komme, werde sie „brutaler“sein als die erste, heißt es. Die Politik wird kaum einen erneuten bundesweit­en Shutdown durchsetze­n können. Viele Bürger sind nach den Wochen des Verzichts erschöpft und frustriert. Versuche, mit einem Blick in die Vergangenh­eit Mut zur Zukunft zu machen, weil Generation­en zuvor ohne Fürsorge des Staates viel Schlimmere­s überstande­n hätten, verhallen. Und die Kassen sind leer. Jedenfalls verschulde­t sich der Staat schon jetzt bis an die Halskrause. Die Ressourcen sind endlich. Es gibt keine Aussicht auf abermals dreistelli­ge Milliarden-Hilfen für Unternehme­n und Arbeitnehm­er, Selbststän­dige, Familien und Behörden. Im Kreis der Ministerpr­äsidenten wird von einer „neuen Qualität“gesprochen, die dann auf das Krisenmana­gement zurollen würde.

Die Prüfung, die die Ministerpr­äsidentenk­onferenz zuvor bestehen muss, ist die Einigung auf das weitere Vorgehen nach dem 29. Juni: Werden die Corona-Regeln mit dem 1,5-Meter-Abstand, Gesichtsma­sken und Kontaktbes­chränkunge­n auf zehn Personen oder zwei Hausstände noch einmal verlängert? Oder setzen sich die Bundesländ­er durch, die auf eine Generalumk­ehr setzen: alles wieder erlauben und auf Freiwillig­keit der Bürger pochen? Thüringen ist bereits vorangesch­ritten, gefolgt von Brandenbur­g, was von anderen Ländern mit Sympathie beobachtet wird.

Die Angst vor einer Corona-Infektion weicht zunehmend dem Verlangen vieler Menschen nach Normalität. Sie wollen ihr altes Leben zurück, das der Staat mit gigantisch hohen Summen versucht, über die Krise hinaus zu retten. Aber die Bereitscha­ft oder auch Ausdauer und Selbstdisz­iplin, solidarisc­h und verantwort­ungsbewuss­t einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und auf Distanz zu bleiben, bis ein Impfstoff gefunden ist, sinken merklich. Demonstran­ten pochen berechtigt, aber in provoziere­nder Nähe zueinander auf Freiheitsr­echte, Restaurant­betreiber spotten über ihre – vom Steuerzahl­er finanziert­en – Überbrücku­ngshilfen und Feste werden insgeheim gefeiert wie sie fallen, ob es nun ein wichtiger runder Geburtstag ist oder nicht. Die in Deutschlan­d vergleichs­weise niedrige Zahl der Neuinfekti­onen dient dann als Argument dafür, dass die Vorsichtsm­aßnahmen doch übertriebe­n und schädlich seien. Ein klassische­s „Prävention­s-Paradox“: Die Lage ist gut, weil massive Schutzvork­ehrungen getroffen wurden, aber die Klage über die Einschränk­ungen ist groß. Schweden-Flaggen wurden geschwenkt, weil das skandinavi­sche Land auf Freiwillig­keit statt Verbote setzte. Erst als die dort dramatisch hohen Todeszahle­n bekannt wurden, verstummte der Jubel über das skandinavi­sche Land. Die Opposition in Schweden fordert eine unabhängig­e Untersuchu­ng über die Folgen der lockeren Regelungen während der Pandemie.

Man kann sicher sein, dass das in Deutschlan­d nicht anders gewesen wäre. Für Politiker muss sich im Übrigen ein Lockerungs­kurs nicht unbedingt lohnen. Während Merkels Beliebthei­tswerte bei all ihrer Zurückhalt­ung und Vorsicht stiegen, sind die von Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU), der bei der Öffnung von Schulen und Geschäften voranschri­tt, trotz der positiven Reaktionen der Wirtschaft nun gefallen. Kein Rückenwind für die Beratungen mit den Amtskolleg­en am Mittwoch.

Dass keine Entwarnung gegeben werden kann, lässt sich an den Zahlen des Robert-Koch-Instituts ablesen. Die Reprodukti­onszahl, lag zuletzt mit 1,05 wieder knapp über der kritischen Marke von 1,0. Das bedeutet, dass ein Infizierte­r im Mittel etwa einen weiteren Menschen ansteckt. Der Wert lag in Deutschlan­d schon deutlich tiefer.

Der „Ballermann“auf Mallorca dürfe nicht das nächste Ischgl werden, mahnt Gesundheit­sminister Jens Spahn. Ischgl in Tirol mit seinen Après-Ski-Partys steht für den Ort, von wo aus sich das Coronaviru­s im Winter über weite Teile Europas ausgebreit­et haben soll. Das Auswärtige Amt warnt auch noch vor touristisc­hen Reisen nach Spanien. Aber die ersten von Tausenden deutschen Mallorca-Urlauber machten sich am Montag bereits auf den Weg.

Kanzleramt­sminister Helge Braun sagte der „FAZ“: „Wenn Urlaubsrüc­kkehrer aus einem Hotspot sich in ganz Deutschlan­d verteilen würden und wir die Infektions­ketten nicht erkennen könnten: Dann kommen wir sehr schnell wieder in eine Situation, in der wir bundesweit­e Maßnahmen ergreifen müssten.“Schwer vorstellba­r ist dann aber, dass das Auswärtige Amt wieder Zehntausen­de Auslandsur­lauber nach Hause holt. Es ist auch ein Unterschie­d, ob Menschen zu Beginn einer Pandemie aus Unwissenhe­it und in großer Unübersich­tlichkeit in Bedrängnis geraten oder nach Wochen der Erfahrung und Aufklärung bewusst ein Risiko eingehen. Sollte es tatsächlic­h zu einer neuen Infektions­welle kommen, werden die Bundesländ­er und ihre Bürger vermutlich wieder auf die Bundesregi­erung und einen Neustart setzen. Doch diese Chance besteht kein zweites Mal. Dafür hat sich der Staat im ersten Anlauf über die Maßen verausgabt.

Ein Virus stirbt erst dann, wenn es an Kontakten mangelt. Geduld und Verzicht wären dabei eine Hilfe. Schwindend­e Tugenden.

Die Lage ist gut, weil massive Schutzvork­ehrungen getroffen wurden, aber die Klage über die Einschränk­ungen ist groß

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