Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Keine zweite Chance
Die Urlaubssaison und die Gefahr einer zweiten Welle bereitet Merkel und den Ministerpräsidenten die nächste Sorge. Die Hilfe des Staates ist endlich. Es mangelt an Geduld. Nötig wäre Diziplin. Die fehlt leider.
Sie haben sich gestritten und überworfen und den Laden am Ende nur mühevoll mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Kontaktbeschränkungen und Schutzmaßnahmen bis zum 29. Juni zusammengehalten. Aber wenn Angela Merkel und die Ministerpräsidenten an diesem Mittwoch erstmals in der Corona-Krise wieder physisch im Kanzleramt zusammenkommen, sind sie in einem wieder vereint: in der Sorge über den Sommer, genauer gesagt über die Urlaubssaison der Deutschen. Im Kanzleramt macht man sich keine Illusionen – komme, werde sie „brutaler“sein als die erste, heißt es. Die Politik wird kaum einen erneuten bundesweiten Shutdown durchsetzen können. Viele Bürger sind nach den Wochen des Verzichts erschöpft und frustriert. Versuche, mit einem Blick in die Vergangenheit Mut zur Zukunft zu machen, weil Generationen zuvor ohne Fürsorge des Staates viel Schlimmeres überstanden hätten, verhallen. Und die Kassen sind leer. Jedenfalls verschuldet sich der Staat schon jetzt bis an die Halskrause. Die Ressourcen sind endlich. Es gibt keine Aussicht auf abermals dreistellige Milliarden-Hilfen für Unternehmen und Arbeitnehmer, Selbstständige, Familien und Behörden. Im Kreis der Ministerpräsidenten wird von einer „neuen Qualität“gesprochen, die dann auf das Krisenmanagement zurollen würde.
Die Prüfung, die die Ministerpräsidentenkonferenz zuvor bestehen muss, ist die Einigung auf das weitere Vorgehen nach dem 29. Juni: Werden die Corona-Regeln mit dem 1,5-Meter-Abstand, Gesichtsmasken und Kontaktbeschränkungen auf zehn Personen oder zwei Hausstände noch einmal verlängert? Oder setzen sich die Bundesländer durch, die auf eine Generalumkehr setzen: alles wieder erlauben und auf Freiwilligkeit der Bürger pochen? Thüringen ist bereits vorangeschritten, gefolgt von Brandenburg, was von anderen Ländern mit Sympathie beobachtet wird.
Die Angst vor einer Corona-Infektion weicht zunehmend dem Verlangen vieler Menschen nach Normalität. Sie wollen ihr altes Leben zurück, das der Staat mit gigantisch hohen Summen versucht, über die Krise hinaus zu retten. Aber die Bereitschaft oder auch Ausdauer und Selbstdisziplin, solidarisch und verantwortungsbewusst einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und auf Distanz zu bleiben, bis ein Impfstoff gefunden ist, sinken merklich. Demonstranten pochen berechtigt, aber in provozierender Nähe zueinander auf Freiheitsrechte, Restaurantbetreiber spotten über ihre – vom Steuerzahler finanzierten – Überbrückungshilfen und Feste werden insgeheim gefeiert wie sie fallen, ob es nun ein wichtiger runder Geburtstag ist oder nicht. Die in Deutschland vergleichsweise niedrige Zahl der Neuinfektionen dient dann als Argument dafür, dass die Vorsichtsmaßnahmen doch übertrieben und schädlich seien. Ein klassisches „Präventions-Paradox“: Die Lage ist gut, weil massive Schutzvorkehrungen getroffen wurden, aber die Klage über die Einschränkungen ist groß. Schweden-Flaggen wurden geschwenkt, weil das skandinavische Land auf Freiwilligkeit statt Verbote setzte. Erst als die dort dramatisch hohen Todeszahlen bekannt wurden, verstummte der Jubel über das skandinavische Land. Die Opposition in Schweden fordert eine unabhängige Untersuchung über die Folgen der lockeren Regelungen während der Pandemie.
Man kann sicher sein, dass das in Deutschland nicht anders gewesen wäre. Für Politiker muss sich im Übrigen ein Lockerungskurs nicht unbedingt lohnen. Während Merkels Beliebtheitswerte bei all ihrer Zurückhaltung und Vorsicht stiegen, sind die von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der bei der Öffnung von Schulen und Geschäften voranschritt, trotz der positiven Reaktionen der Wirtschaft nun gefallen. Kein Rückenwind für die Beratungen mit den Amtskollegen am Mittwoch.
Dass keine Entwarnung gegeben werden kann, lässt sich an den Zahlen des Robert-Koch-Instituts ablesen. Die Reproduktionszahl, lag zuletzt mit 1,05 wieder knapp über der kritischen Marke von 1,0. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel etwa einen weiteren Menschen ansteckt. Der Wert lag in Deutschland schon deutlich tiefer.
Der „Ballermann“auf Mallorca dürfe nicht das nächste Ischgl werden, mahnt Gesundheitsminister Jens Spahn. Ischgl in Tirol mit seinen Après-Ski-Partys steht für den Ort, von wo aus sich das Coronavirus im Winter über weite Teile Europas ausgebreitet haben soll. Das Auswärtige Amt warnt auch noch vor touristischen Reisen nach Spanien. Aber die ersten von Tausenden deutschen Mallorca-Urlauber machten sich am Montag bereits auf den Weg.
Kanzleramtsminister Helge Braun sagte der „FAZ“: „Wenn Urlaubsrückkehrer aus einem Hotspot sich in ganz Deutschland verteilen würden und wir die Infektionsketten nicht erkennen könnten: Dann kommen wir sehr schnell wieder in eine Situation, in der wir bundesweite Maßnahmen ergreifen müssten.“Schwer vorstellbar ist dann aber, dass das Auswärtige Amt wieder Zehntausende Auslandsurlauber nach Hause holt. Es ist auch ein Unterschied, ob Menschen zu Beginn einer Pandemie aus Unwissenheit und in großer Unübersichtlichkeit in Bedrängnis geraten oder nach Wochen der Erfahrung und Aufklärung bewusst ein Risiko eingehen. Sollte es tatsächlich zu einer neuen Infektionswelle kommen, werden die Bundesländer und ihre Bürger vermutlich wieder auf die Bundesregierung und einen Neustart setzen. Doch diese Chance besteht kein zweites Mal. Dafür hat sich der Staat im ersten Anlauf über die Maßen verausgabt.
Ein Virus stirbt erst dann, wenn es an Kontakten mangelt. Geduld und Verzicht wären dabei eine Hilfe. Schwindende Tugenden.
Die Lage ist gut, weil massive Schutzvorkehrungen getroffen wurden, aber die Klage über die Einschränkungen ist groß