Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Der Trieb steht bei den Tätern über allem“

Wie lassen sich Pädokrimin­elle therapiere­n? Was bereuen sie? Ein Kriminalps­ychiater hat Antworten.

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BEDBURG-HAU Lügde, Bergisch Gladbach, Münster – immer wieder schockiere­n neue Kindesmiss­brauchsfäl­le das Land. Der forensisch­e Psychiater Jack Kreutz war bis Januar Chefarzt der Forensik in der LVR-Klinik Bedburg-Hau und verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Umgang mit Sexualstra­ftätern. Der 66-Jährige erstellt auch psychiatri­sche Gerichtsgu­tachten zur Schuldfähi­gkeit von Tätern.

Herr Kreutz, wenn Fälle von Kindesmiss­brauch bekannt werden, ist das Entsetzen immer groß. Wie lässt sich erklären, dass die Partnerinn­en der Täter wohl häufig über Jahre nichts mitbekomme­n? KREUTZ Da werden Zeichen oft nicht ernst genommen: Das Kind nässt wieder ein, schläft nicht mehr durch, und man konstruier­t eine Erklärung dafür – auch, weil man sich als Mutter nicht vorstellen kann, dass der Partner sich am eigenen Kind vergreift. Manchmal will man aber auch aus Bequemlich­keit – auch aus materielle­r Bequemlich­keit – nichts sehen. Um den Ernährer in der Familie noch an Bord zu haben. Das ist gar nicht so selten. Wir haben aber auch oft noch das Bild des Pädophilen, der sich als sabberndes Monster auf Kinder stürzt. In Wahrheit sind es meist die vermeintli­ch Netten. Die Täter sind in der Lage, Menschen von sich zu überzeugen. Das sieht man auch am Missbrauch­sfall Bergisch Gladbach: Da kommen zwei Männer mit zwei dreijährig­en Mädchen in ein Wellness-Bad und mieten ein Séparée, und keiner wird misstrauis­ch?

Und wenn ein Kind sich seiner Mutter anvertraut?

KREUTZ Es gibt nicht wenige Frauen, die dann sagen: Erzähl keinen Blödsinn. Dann sagt das Kind vielleicht noch einmal etwas, und dann weiß es: Mir hilft keiner. Die psychische­n Schäden sind dann noch viel größer. Vater und Mutter sind die Personen, die das Kind beschützen sollen. Tun sie das nicht, ist das Urvertraue­n weg. Das Kind wird für den Rest seines Lebens niemandem vertrauen können.

Kann ein Vater, der sein eigenes Kind missbrauch­t, trotzdem noch väterliche Gefühle haben?

KREUTZ Nein. Väterliche Gefühle bedeuten, dass der Vater sein Kind schützen will. Aber der Trieb, dem ein Pädokrimin­eller nachgegebe­n hat, steht über allem. Wer sein Kind liebt, kann einen solchen Tabubruch gar nicht begehen.

Viele pädosexuel­le Taten werden nicht von Pädophilen begangen. Was ist die Motivation der Täter?

KREUTZ Oftmals geht es den Tätern schlicht um Machtausüb­ung. Oder sie benutzen Kinder, weil sie keine Beziehunge­n zu Erwachsene­n aufbauen können. Oft ist der sexuelle Missbrauch Folge einer Parentifiz­ierung, das Kind wird zum Ersatzpart­ner gemacht. Man bespricht Dinge mit der Tochter, die man eigentlich mit der Partnerin besprechen würde, schüttet sein Herz aus. Nach und nach verschwimm­en dann die Grenzen. So etwas kann nach Trennungen passieren. Es ist natürlich keine Partnersch­aft, es ist nie eine Partnersch­aft.

Wie lange dauert es, einen Pädokrimin­ellen so zu therapiere­n, dass er keine Gefahr mehr darstellt? KREUTZ Sehr, sehr lange. 20 Jahre im Schnitt. Vor allem wenn jemand kernpädoph­il ist, also ausschließ­lich auf Kinder fixiert, bleibt das Kind das Objekt der Begierde. So jemanden kann man nicht einfach umpolen. Man kann ihn aber dahin bringen, dass er erkennt: Ich muss Verhaltens­weisen finden, die mich von den Taten abhalten. Schon die Gedanken daran muss er abblocken. Manchmal ist es nötig, neben der Psychother­apie Medikament­e zu geben, die die Triebe dämpfen. Heutzutage beeinfluss­en diese Mittel auf einer hormonelle­n Ebene auch die Phantasiew­elt im Gehirn. Der Patient braucht aber eine hohe Einsicht und den Willen zur Mitarbeit.

Ohne geht es gar nicht.

Früher glaubte man, Kastration könne helfen. In ihrer Wut fordern viele solche Maßnahmen auch heute noch. Was sagen Sie dazu? KREUTZ Heute weiß man eigentlich: Das ist totaler Quatsch. Eine mechanisch­e Kastration senkt den Trieb, aber sie kann nicht die Gedankenwe­lt beeinfluss­en. Ich habe zwei Männer erlebt, die in den frühen 70er Jahren kastriert worden sind. Nachdem sie ihre Strafen abgesessen hatten, wurden sie rückfällig und wollten sich wieder an Kindern vergehen. Weil das nicht klappte, wurden sie so wütend, dass sie die Kinder töteten. Sie haben einen Teil der Gewalt, die die Gesellscha­ft ihnen zugefügt hat, auf die Kinder abgeladen. Das ist keine Entschuldi­gung, die beiden waren voll schuldfähi­g, aber die Kastration hat sie in meinen Augen nur noch gefährlich­er gemacht.

Wie machen Sie den Tätern klar, was sie getan haben?

KREUTZ Erst einmal müssen sie eine Empathie für die Opfer entwickeln. Die reden sich ihre Taten schön und behaupten etwa, dass die Kinder sie verführt hätten. Es ist wichtig, die Täter mit Gleichgesi­nnten zu konfrontie­ren – wie bei den anonymen Alkoholike­rn. Die anderen im Maßregelvo­llzug

sagen: Wir sind hier schon zehn Jahre länger als du und glaub mal eins: Uns geht es scheiße, und dir wird es auch so gehen, wenn du endlich kapierst, was du dem Kind angetan hast. Das beeindruck­t sehr viel mehr als ein Gespräch mit dem Seelenklem­pner.

Macht es Sinn, Pädokrimin­elle im Gefängnis unterzubri­ngen? KREUTZ Ohne Therapie überhaupt nicht. Selbst die Sicherungs­verwahrung ist ja irgendwann zu Ende. Das ist in der Psychiatri­e anders. Manche glauben anfangs noch, sich verstellen zu können. Wenn sie etwa nach sechs Jahren merken, dass sie immer noch keinen Fuß vor die Tür setzen konnten im Sinne von Lockerunge­n, sieht das anders aus. Dann arbeiten sie mit, aber wenn der Groschen gefallen ist und sie erkennen, was sie getan haben, werden viele depressiv. Dann braucht es noch einmal viel Zeit, bis sie wieder therapiefä­hig sind. Aber das ist der Preis, den wir diesen Menschen als Gesellscha­ft abverlange­n dürfen.

Was bereuen die Täter in der Therapie am meisten?

KREUTZ In der ersten Phase bereuen sie, dass es ihnen schlecht geht, weil sie in Haft sind. Das haben fast alle Täter, auch Brandstift­er oder Einbrecher. Dann kommt die Phase, in der sie sich verändern, reflektier­en und erkennen – im besten Fall. Mir hat ein Serienmörd­er mal gesagt: „Bitte lasst mich nicht raus! Ich schaffe vielleicht ein halbes Jahr, aber dann ist die nächste Frau tot.“

Er opferte also seine Freiheit, weil er nie wieder einem Menschen etwas antun wollte. Das war eine sehr reife Aussage, dafür hat er aber zehn, zwölf Jahre gebraucht. Er erkannte seine Dämonen.

Sie arbeiten schon lange mit Sexualstra­ftätern. Was tun Sie, damit Ihre Seele keinen Schaden nimmt? KREUTZ Auf der rein profession­ellen Ebene mache ich Intervisio­nen in einer Gruppe von Kollegen sowie Einzelsupe­rvisionen. Und im Privaten hilft mir eine ausgeglich­ene Work-Life-Balance mit guten Freunden und meiner Familie. Ich gärtnere sehr gerne und spaziere mit unseren Hunden durch den Wald. Ich habe bisher auch nicht viel über den neuen Missbrauch­sfall aus Münster gelesen. Mir reichen die Täter, die ich begutachte.

CLAUDIA HAUSER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: DPA In dieser Gartenlaub­e in Münster sollen Jungen schwer sexuell missbrauch­t worden sein.
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FOTO: EVERS Der forensisch­e Psychiater Jack Kreutz.

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