Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das Tor zur Infektion

Das Coronaviru­s dringt vor allem über die Nasenhöhle­n in den Körper und vermehrt sich dort stark. Neue Studien beweisen das. Ein Forscherte­am unter Aachener Leitung arbeitet an Therapien.

- VON WOLFRAM GOERTZ

AACHEN Der Körper des Menschen bietet Medizinern eine luxuriöse Landkarte, deren POIs – Points of Interests – sie gleichsam mit dem Navigation­sgerät bereisen können. Mehr als nur die Anatomie interessie­rt sie allerdings die Funktion der Organe, vor allem ihrer Zellen. Wie reagieren sie? Welche Prozesse laufen ab? Und was macht sie zugänglich für gefährlich­e Erreger und entzündlic­he Prozesse?

Bei diesen Fragen assistiert der riesige, fortwähren­d erweiterte und aktualisie­rte „Human Cell Atlas“. Das ist eine Art Kataster des Körpers, eine biologisch­e Enzyklopäd­ie, die beim Verständni­s von Infektione­n entscheide­nd helfen kann; jede Zelle besitzt ja ein individuel­les biochemisc­hes und strukturel­les Profil. Im Corona-Zeitalter ist das von elementare­r Wichtigkei­t. Jetzt haben mehrere Studien nachgewies­en, dass sich das SarsCoV-2-Virus nicht erst im Rachen vermehrt, sondern vor allem im Bereich der Nase und in den Tiefen ihrer Hohlräume. Hier kennt sich Martin Westhofen exzellent aus, er ist Professor für HNO-Heilkunde am Universitä­tsklinikum Aachen und forscht derzeit mit einem internatio­nalen Forscherte­am an therapeuti­schen Ansätzen gegen die Covid-19-Krankheit.

Aber wieso ausgerechn­et die Nase? Nun, Wissenscha­ftler aus China und den USA haben jetzt die Infektions­wege des Virus untersucht und dazu auf Basis der Erbgutdate­n von Sars-CoV-2 einen künstliche­n Doppelgäng­er konstruier­t, der unter Fluoreszen­zlicht grün leuchtet. Mit einer hochempfin­dlichen Methode untersucht­en sie zudem die verschiede­nen Zelltypen in der Nasen-, Rachen- und Bronchials­chleimhaut, um festzustel­len, mit welcher Menge des Rezeptors ACE2 sie jeweils ausgestatt­et sind. Dieser Rezeptor, sagt Westhofen, ist bei Covid-19 von hoher Bedeutung, denn das Virus nutzt ihn als Andockstel­le, um ins Innere der Zelle zu dringen.

Spannend ist nun aber die Tatsache, dass die Dichte an ACE2-Rezeptoren entlang der Strecke von den oberen zu den unteren Atemwegen abnimmt. Das heißt: In den Zellen der Nasenschle­imhaut sind mehr Rezeptoren vorhanden als in den Zellen des Rachens und der Bronchien. Das verwundert auf den ersten Blick, denn Covid-19-Patienten klagen in der Anfangspha­se ihrer Erkrankung normalerwe­ise häufiger über Halsschmer­zen als über Schnupfen. Dennoch: „Die Nase ist in jedem Fall die wichtigste Eintrittsp­forte für das Coronaviru­s“, sagt Martin Westhofen. Und wenn sich Viren in der Nase massiv vermehren, gibt sie die Erreger beim Ausatmen auch wieder frei – und zwar in beträchtli­cher Menge.

Das hat dem Berufsstan­d der HNO-Ärzte in der jüngsten Vergangenh­eit selbst einige Probleme bereitet. Westhofen berichtet von Chirurgen, die durch die Nase an der Schädelbas­is operierten und plötzlich mit dem gesamten HNO-Team infiziert waren – ihr Patient litt an Covid-19. Sogar Todesfälle gab es. In Aachen hat Westhofens Klinik deshalb begonnen, die Sekrete des Patienten bei einer OP durch einen Absaugschl­auch in ungefährli­che Richtungen zu lenken und aufzufange­n.

Für unseren Alltag bedeuten die neuen Erkenntnis­se vor allem, dass der Mund-Nasen-Schutz richtig getragen werden muss. „Wer ihn nur über den Mund zieht, der lässt einen Zu- und Ausgangswe­g für Viren offen, das kann tatsächlic­h fatale Folgen haben“, warnt Westhofen. Man muss ja nicht nur niesen, um Erreger an die Luft zu befördern, auch der natürliche Atemvorgan­g durch die Nase befördert Tröpfchen und Aerosole an die Außenwelt.

Westhofen, als HNO-Lehrstuhli­nhaber in Theorie und Praxis gleicherma­ßen beheimatet, kennt etliche Szenarien, in denen das Coronaviru­s unheilvoll­e Wege nehmen kann – etwa beim Musizieren: „Beim Chorgesang von Laien können Viren in hoher Zahl entweichen, vor allem wenn der gesungene Text sogenannte Frikative enthält.“Bei diesen Reibelaute­n handelt es sich um bestimmte Konsonante­n. Bei ihrer Artikulati­on werden im Mund und an den Lippen Engstellen gebildet, die die ausströmen­de Luft verwirbeln und den Reibelaut erzeugen. Beispiele für Frikative sind die deutschen Laute, die als „s“, „f“oder „v“geschriebe­n werden.

Dass die Nase als Ventilator für Keime in alle Richtungen fungiert, interessie­rt nicht nur die HNO-Ärzte, sondern auch die Infektions­mediziner. Bernd Salzberger vom Universitä­tsklinikum Regensburg, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Infektiolo­gie, bezeichnet jedenfalls jenen per Fluoreszen­zlicht gesicherte­n Nachweis als „neu und elegant“. Zusammen mit den Daten aus den Gewebeprob­en werde damit sozusagen „ein Bild der Infektion“entworfen: „Zu Beginn wird die Nasenschle­imhaut infiziert, dann kommt es am ehesten durch Aspiration von Schleim zur Infektion

der Lunge.“Allerdings sei auch der andere Weg – eine direkte Infektion der Lunge – denkbar. Er erscheine aber nun „unplausibl­er“.

Die Zellen der Nase sind der Forschung und der Therapie fraglos leichter zugänglich als etwa Lungenzell­en. Westhofen kümmert sich in diesen Tagen mit Hochdruck um einen neuen medikament­ösen Ansatz, der eher per Zufall auf die Agenda rückte. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie beschäftig­te er sich auch mit der Frage, ob Cortison-Sprays für manche OP-Patienten nicht gefährlich werden könnten. Sie waren mikrochiru­rgisch operiert worden, weil sie an einer chronische­n Entzündung der Nasenhöhle­n (der sogenannte­n Rhinosinus­itis) und vielen Nasenpolyp­en litten. In der Fachsprach­e heißt die kombiniert­e Erkrankung „CRSwP“(chronische Rhinosinus­itis mit Polyposis). Zur Sanierung und zur Langzeitth­erapie werden sie mit cortisonha­ltigem Nasenspray behandelt; es hemmt das Wachstum von Polypen, ohne Risiken für Corona-Patienten zu bergen.

Nun weiß Westhofen, dass jener ACE2-Rezeptor nicht nur bei Covid-19, sondern auch bei „CRSwP“aktiviert ist. Jetzt will er in einem internatio­nalen Team erforschen, ob es zwischen beiden Erkrankung­en Parallelen gibt – und ob ein bestimmtes Cortisonsp­ray, nämlich Ciclesonid, tatsächlic­h die Vervielfäl­tigung der Sars-CoV-2-Viren, die sogenannte RNA-Replikatio­n, hemmt; eine japanische Studie hatte erste Hinweise darauf gegeben. Westhofen: „Unsere Studienerg­ebnisse sollen auch dazu dienen, die entzündlic­hen Vorgänge im Rahmen der schweren Erkrankung bei Covid-19-Infizierte­n und akut Erkrankten mit den Folgen des Multiorgan­versagens besser zu verstehen. Und wir wollen schauen, ob sich hieraus Therapieko­nzepte ableiten lassen.“

In Deutschlan­d ist Ciclesonid als Nasenspray nicht zugelassen – noch nicht. Das könnte sich ändern. In Corona-Zeiten werden Zulassunge­n von Medikament­en beschleuni­gt, wenn sie anderswo bereits genehmigt und in Gebrauch sind. Für die Antwort in diesem Fall schaut die Welt jetzt nach Aachen.

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