Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Bewährungs­probe für die Demokratie

Die nordrhein-westfälisc­he Landesverf­assung trat heute vor 70 Jahren in Kraft – erst fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriege­s. In Corona-Zeiten steht sie wie selten zuvor auf dem Prüfstand.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Für André Kuper ist die Landesverf­assung aktueller denn je. „In Verantwort­ung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erfüllt von dem Willen, die Not der Gegenwart in gemeinscha­ftlicher Arbeit zu überwinden, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerechtigk­eit und Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung gegeben…“, zitiert der Landtagspr­äsident. Er hält kurz inne und blickt auf: „Die Präambel bewegt mich jedes Mal sehr. ‚Die Not der Gegenwart‘, heißt es da. Das ist aktueller denn je.“

70 Jahre alt wird die Verfassung von Nordrhein-Westfalen heute – am 11. Juli 1950 trat sie in Kraft. Also erst fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriege­s und gut ein Jahr nach Verabschie­dung des Grundgeset­zes für die Bundesrepu­blik Deutschlan­d. In dieser Zeit wurde die Landesverf­assung immer wieder auf die Probe gestellt – zuletzt in der Corona-Krise.

Vor dem 11. Juli 1950 hatte es in NRW unter dem Einfluss der britischen Militärreg­ierung nur verschiede­ne Verordnung­en und Gesetze mit verfassung­srechtlich­em Charakter gegeben, etwa das Landeswahl­gesetz oder die Gemeindeor­dnung, wie es in einer historisch­en Einordnung des Landtages heißt.

Für die Verzögerun­g gab es Gründe. Einer war, dass man sich lange Zeit nicht sicher sein konnte über die Zukunft des von den Alliierten geschaffen­en Landes mit dem Bindestric­h im Namen. Ein anderer war, dass viele Politiker Nordrhein-Westfalens an der Entwicklun­g des Grundgeset­zes beteiligt waren, sie spielten bei der Verfassung­sentwicklu­ng der Bundesrepu­blik eine maßgeblich­e Rolle. Für die Ausarbeitu­ng einer Landesverf­assung blieb da zunächst wenig Zeit. So kamen allein drei der vier „Mütter des Grundgeset­zes“

aus Nordrhein-Westfalen: Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrum) und Friederike Nadig (SPD). Erst nachdem das Grundgeset­z am 23. Mai 1949 verabschie­det war, wurde die Arbeit an der Landesverf­assung intensivie­rt.

An Entwürfen für ein Landesgrun­dgesetz gab es keinen Mangel. Der damalige CDU-Ministerpr­äsident Karl Arnold legte einen vor, die KPD einen weiteren, ebenso die FDP. Und Innenminis­ter Walter Menzel (SPD) präsentier­te im Laufe der Jahre gleich mehrere Entwürfe, die auch die Wünsche der britischen Besatzungs­macht berücksich­tigten. Es wurde hart gerungen: Der Verfassung­sausschuss tagte zunächst in 23 Sitzungen. Ohne Ergebnis – die Stimmen standen sieben zu sieben.

Streitpunk­te gab es viele. Zum Beispiel die Schulpolit­ik. SPD, FDP und KPD setzten sich für eine Gemeinscha­ftsschule ein. CDU und Zentrum wollten, dass die Eltern über die Schulform für ihre Kinder entscheide­n können. So kam es dann.

Durchsetze­n konnte sich die CDU mit Arnold an der Spitze auch bei Artikel 4 der Landesverf­assung. Der bestimmt, dass die Grundrecht­e der Bundesrepu­blik unmittelba­r geltendes Landesrech­t ist. Ebenso konnte Arnold die Bezeichnun­g „Gliedstaat“für Nordrhein-Westfalen im Artikel 1 der Landesverf­assung durchsetze­n. Der Vorschlag des Ministerpr­äsidenten hingegen, ein Mehrheitsw­ahlrecht verfassung­srechtlich zu verankern, wurde abgewehrt. Auch Arnolds Entwurf zur Einführung einer Art zweiten Kammer mit den Vertretern der Gemeinden neben dem Landtag fand keine ausreichen­de Unterstütz­ung. Menzel auf der anderen Seite musste nachgeben und der Einführung eines Landesverf­assungsger­ichts zustimmen.

Da die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vergleichs­weise spät in Kraft getreten ist, orientiert sie sich im Wesentlich­en am Bonner Grundgeset­z. Aber es gibt auch Besonderhe­iten: „Die Alliierten haben ihre Spuren in der Landesverf­assung hinterlass­en. Zum Beispiel, dass der Ministerpr­äsident in Nordrhein-Westfalen Abgeordnet­er des Landtags sein muss. Das gibt es in anderen Bundesländ­ern nicht“, sagt Landtagspr­äsident Kuper.

Doch längst nicht alle Teile der Landesverf­assung sind 70 Jahre alt. „Kurz vor den Sommerferi­en hatten wir die 21. Verfassung­sänderung. Wir haben eine Europa-Klausel hineingesc­hrieben. Das ist so kurz nach dem Brexit ein wichtiges Signal“, so der CDU-Politiker. Erforderli­ch ist dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordnet­en. „Sehr wichtige Verfassung­sänderunge­n waren die Absenkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre im Jahr 1969 und im selben Jahr der Wechsel von der vier- zur fünfjährig­en Wahlperiod­e“, rekapituli­ert Kuper.

Eine ihrer härtesten Prüfungen hat die Landesverf­assung aber gerade vor wenigen Wochen erst überstande­n, in der Corona-Krise: „Die Debatte über das Epidemie-Gesetz war eine Sternstund­e der parlamenta­rischen Demokratie.“Alle, auch die Regierungs­fraktionen, seien sich einig gewesen, dass es nicht so gehen würde, wie es in den ersten Entwürfen angedacht gewesen sei. „Noch nie zuvor gab es in diesem Landtag eine vergleichb­are Situation. Das war einmalig, angesichts einer ernsten Lage“, sagt Kuper. Was war geschehen?

Unter dem Eindruck steigender Infektions­zahlen und drohender Engpässe in Krankenhäu­sern hatte die schwarz-gelbe Landesregi­erung Ende März auf ein Epidemie-Gesetz gedrungen, das ihr für unbefriste­te Zeit weitreiche­nde Befugnisse gegeben hätte. Dem Entwurf zufolge sollte etwa medizinisc­hes Personal zwangsverp­flichtet werden. Das Gesetz hätte an einem einzigen Tag den Landtag passieren sollen. Rechtswiss­enschaftle­r sahen darin eine Art Notstandsg­esetz. Doch fraktionsü­bergreifen­d regte sich starker Widerstand. Schließlic­h erreichte der Landtag weitreiche­nde Änderungen, darunter eine Befristung des Epidemie-Gesetzes.

Die Landesverf­assung hat damit auch ihre jüngste Bewährungs­probe bestanden.

„Die Alliierten haben ihre Spuren in der Landesverf­assung hinterlass­en“

André Kuper (CDU) Landtagspr­äsident

Newspapers in German

Newspapers from Germany