Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Was ist der normale Mensch?

In Sigmar Gabriels Worten kommt Empörendes zum Ausdruck.

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Kennen Sie das auch, dass Ihnen manchmal Sätze nicht aus dem Kopf wollen oder auch nur einzelne Wörter, die Sie irgendwo gehört haben? Und die jetzt in Ihnen zu arbeiten beginnen und rumoren? Das ist mir so ergangen bei Sigmar Gabriel, der – angesproch­en auf sein monatliche­s Pauschalho­norar beim Fleischpro­duzenten Tönnies – unlängst erklärte: „Für normale Menschen sind 10.000 Euro viel Geld. Aber in der Branche ist das kein besonders hoher Betrag.“Mich interessie­rt nicht so sehr, wie viel der frühere SPD-Bundesvors­itzende heute verdient. Spannender ist, welche Einstellun­g in solchen Auskünften steckt, welches Selbst- und welches Menschenbi­ld. In dem Zitat jedenfalls rechnet sich Gabriel nicht zu den normalen Menschen, er grenzt sich davon ab. Doch sich selbst würde er im Umkehrschl­uss dennoch nie als „anormal“bezeichnen. Die Redewendun­g vom sogenannte­n normalen Menschen meint den gewöhnlich­en Menschen. Früher war das der „kleine Mann“und sozialdemo­kratisch die Basis. Auf die kommt es immer an, ganz besonders in Wahlkampf- und Krisenzeit­en. Der normale Mensch ist immer schon ein Klischee gewesen, die große Schublade der Meinungsfü­hrer. Den normalen Menschen aber gibt es nicht. Es gibt viele Schlechtve­rdiener

und Arme, viele, die keine Stimme, keine rosige Zukunft und wenig Hoffnung haben. Und deren Rat nicht mit 10.000 Euro monatlich entlohnt wird. Wer diese Menschen als normale Menschen bezeichnet, hat schlichtwe­g verinnerli­cht und sich damit abgefunden, dass es diese gesellscha­ftlichen Verhältnis­se gibt. Die Normalität ist Stillstand und ist der Versuch, mit dem Sprachgebr­auch Inakzeptab­les akzeptabel erscheinen zu lassen. Für mich ist darum der normale Mensch das eigentlich Empörende an Sigmar Gabriels Statement.

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LOTHAR SCHRÖDER

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