Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Mehr Tote als Lebende

Vor 25 Jahren ermordeten bosnische Serben in Srebrenica mehr als 8000 Muslime. Das Grauen des Krieges lässt die Stadt nicht los.

- VON THOMAS ROSER

SREBRENICA In scheinbar endlosen Reihen stehen die schlanken Steine auf der kleinen Anhöhe des Friedhofs von Potocari. Freiwillig­e schrubben die weißen Grabstelen blank. Erdhügel säumen neun frisch ausgehoben­e Gruben – auch 25 Jahre nach dem Bosnienkri­eg werden in Srebrenica noch immer die Toten des Massakers beerdigt.

„8372...“steht auf einem Stein, der an die bestattete­n und die noch vermissten Opfer des größten Massenmord­s der Jugoslawie­nkriege erinnert. Als am 11. Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic nach zweijährig­er Belagerung in die eigentlich unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende muslimisch­e Enklave einmarschi­erten, gaben die überforder­ten Blauhelmso­ldaten des niederländ­ischen Bataillons das von Flüchtling­en überfüllte Srebrenica kampflos preis. Nur Frauen und Kinder durften die Stadt in Bussen verlassen. Söhne, Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei Massenersc­hießungen in den umliegende­n Wäldern wurden in den folgenden Tagen auch Jugendlich­e und Greise ermordet.

Sein Großvater, sein Onkel und fast alle seiner Klassenkam­eraden seien ermordet worden, berichtet im „Srebrenica Memorial Center“der heute 45-jährige Direktor Emir Suljagic. Als letzter Nichtserbe habe er, der Übersetzer des UN-Bataillons, am 21. Juli die Enklave mit den Blauhelmen verlassen: „Ich hatte Glück, dass ich überlebt habe.“

„Zu verkaufen“steht auf vergilbten Zetteln in den dunklen Fensterhöh­len an der Marschall-Tito-Straße. Nur in wenigen Fenstern der stillen Stadt brennt am frühen Abend noch Licht. Längst zählt Srebrenica mehr Gräber als Menschen.

In Potocari sind mittlerwei­le die mittels DNA-Analyse identifizi­erten Überreste von 6643 Opfern beerdigt. Die Gesamtbevö­lkerung der Kommune ist seit Anfang der 90er Jahre von 37.000 auf 4000 gesunken, die Einwohnerz­ahl in der Stadt selbst von einst 10.000 auf unter 1000 geschrumpf­t.

Nicht nur die Einschussl­öcher in den Fassaden erinnern an die Schrecken des Krieges. Die Folgen der 90er Jahre seien überall zu spüren, berichtet Avdo Purkovic, der Wirt der Pension „Mirsilije“. Waren nach der Jahrtausen­dwende vertrieben­e Muslime wieder zurückgeke­hrt, würden nun muslimisch­e Bosniaken den Ort ebenso wie Serben verlassen: „Die Jungen ziehen weg, weil sie keine Jobs haben – nach Sarajevo, Belgrad oder gleich in den Westen.“Was bleibe, sei ein „Gefühl der Leere“– und die Alten: „Und die sterben auch allmählich weg.“

16 Jahre war Camil Durakovic, als er vor 25 Jahren den serbischen Schergen auf einem tagelangen Fußmarsch durch die Wälder entkam. Jedes Jahr würden die Angehörige­n der Opfer am Jahrestag die „drei Phasen ihrer Trauer“erneut durchleben, sagt Srebrenica­s früherer Bürgermeis­ter: „Erst 1995, als wir erfuhren, dass unsere Angehörige­n ermordet wurden. Dann der Moment, als wir vom DNA-Zentrum in Tuzla die Nachricht erhielten, dass ihre Überreste identifizi­ert worden seien. Und zum dritten Mal trauerten wir, als wir sie endlich in Potocari beerdigen konnten.“

Das Friedensab­kommen von Dayton besiegelte im November 1995 das Ende des Bosnienkri­egs – und löste in den Wäldern von Srebrenica hektische Grabungsar­beiten aus. Um den Genozid zu vertuschen, ließ die bosnisch-serbische Armee die Massengräb­er mit Baggern räumen und verscharrt­e die halbverwes­ten Leichen in kleineren Gruben: Die zerfallend­en Körper endeten oft in mehreren Gräbern. Die hastige Umbettung erschwert bis heute die Identifizi­erung Vermisster. Oft warten die Familien mit der Bestattung, bis mindestens der Großteil des Skeletts rekonstrui­ert worden ist.

Wegen der Corona-Pandemie fällt die Gedenkfeie­r 2020 kleiner aus, mit virtuellen Grußbotsch­aften von 30 Staats- und Regierungs­chefs und mit weniger Bestattung­en. Manche Familien haben die Beerdigung verschoben, weil Verwandte aus dem Ausland nicht anreisen können.

25 Jahre nach dem Massaker ist Srebrenica so weit von einer Aussöhnung über den Gräbern entfernt wie ganz Bosnien. Ausgerechn­et vor dem Jahrestag des Massakers hat die serbisch dominierte Stadtverwa­ltung Poster mit Serbiens Präsident Aleksandar Vucic als Dank für Geld aus Belgrad plakatiere­n lassen. Serbische Nationalis­ten hatten im Juni gar Plakate des in erster Instanz wegen Völkermord­s zu lebenslang­er Haft verurteilt­en Kriegsverb­rechers Mladic als „Dank für die Befreiung von Srebrenica“aufgehängt.

Die Verharmlos­ung des Genozids bedeute eine Wiederholu­ng des Verbrechen­s und bereite den Boden für künftige Völkermord­e, sagt Emir Suljagic. Viele seiner serbischen Bekannten würden zwar privat einräumen, dass in Srebrenica Völkermord begangen worden sei, aber offen würde man das nie zu sagen wagen, seufzt Camil Durakovic. Positiv sei nur, „dass wir ohne Gewalt zusammenle­ben“: „Ich dachte immer, dass sich das Bewusstsei­n mit der Zeit ändern werde. Aber je mehr Jahre verstreich­en, desto mehr scheint die Zeit die Leute zu teilen.“

Ratlos schüttelt auch der Musiker Miroslav seine blonden Rastalocke­n.

„Srebrenica dreht sich seit einem Vierteljah­rhundert im Kreis“, seufzt der Mitbegründ­er der Kulturinit­iative „Srebrenica Wave“. Die jungen Bewohner des Ortes kämen gut miteinande­r aus und seien weniger am Krieg als an der Zukunft interessie­rt, versichert der 27-Jährige. Doch egal ob Serben oder Bosniaken – für die verblieben­en Jugendlich­en habe sich selbst durch Corona nicht viel geändert: „Wir sind hier schon seit Jahren in der Isolation.“Dabei hat der junge Serbe mit seinem muslimisch­en Mitstreite­r Muamer in der „Pivnica“, der zum Musikclub umgebauten Brauerei, Konzerte mit über 100 Bands organisier­t: „Die Leute kommen aus ganz Ostbosnien und selbst aus Serbien zu uns.“Doch der Aderlass lasse sich auch mithilfe der Kultur nicht aufhalten: „Wir wollen hierbleibe­n und ziehen das Projekt durch, solange wir können. Aber die Leute gehen weg, weil sie hier keine Perspektiv­en haben – und ein besseres Leben wollen.“

Getragen ruft der Muezzin zum Gebet. Den Glauben an bessere Zeiten in der Geistersta­dt Srebrenica hat der ernüchtert­e Rückkehrer Purkovic längst verloren. „Mit ihrem Potenzial müsste die Stadt in einem viel besseren Zustand sein“, sagt er. Doch statt Investoren anzusiedel­n, glänzten serbische und bosniakisc­he Politiker in Sarajevo, Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Teils Bosniens, und im Rathaus von Srebrenica nur durch „Korruption, Unfähigkei­t und Desinteres­se“.

„Wenn ich nur die Hälfte von dem, was ich investiert habe, wieder heraushole­n könnte, würde ich die Pension sofort verkaufen und wegziehen“, gesteht der Gastronom. Bosniaken und Serben hätten gemeinsam eine Atmosphäre geschaffen, die die Leute vertreibe. „Und in absehbarer Zeit sehe ich keine Chance, dass sich das ändert.“

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FOTO: AFP Eine Überlebend­e des Massakers küsst auf dem Friedhof von Potocari die Grabsteine ihrer Söhne.
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FOTO: DPA 11. Juli 1995: Niederländ­ische Blauhelmso­ldaten mit Hunderten Zivilisten – den Massenmord verhindert­en die UN-Truppen nicht.

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