Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Mehr Tote als Lebende
Vor 25 Jahren ermordeten bosnische Serben in Srebrenica mehr als 8000 Muslime. Das Grauen des Krieges lässt die Stadt nicht los.
SREBRENICA In scheinbar endlosen Reihen stehen die schlanken Steine auf der kleinen Anhöhe des Friedhofs von Potocari. Freiwillige schrubben die weißen Grabstelen blank. Erdhügel säumen neun frisch ausgehobene Gruben – auch 25 Jahre nach dem Bosnienkrieg werden in Srebrenica noch immer die Toten des Massakers beerdigt.
„8372...“steht auf einem Stein, der an die bestatteten und die noch vermissten Opfer des größten Massenmords der Jugoslawienkriege erinnert. Als am 11. Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic nach zweijähriger Belagerung in die eigentlich unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende muslimische Enklave einmarschierten, gaben die überforderten Blauhelmsoldaten des niederländischen Bataillons das von Flüchtlingen überfüllte Srebrenica kampflos preis. Nur Frauen und Kinder durften die Stadt in Bussen verlassen. Söhne, Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei Massenerschießungen in den umliegenden Wäldern wurden in den folgenden Tagen auch Jugendliche und Greise ermordet.
Sein Großvater, sein Onkel und fast alle seiner Klassenkameraden seien ermordet worden, berichtet im „Srebrenica Memorial Center“der heute 45-jährige Direktor Emir Suljagic. Als letzter Nichtserbe habe er, der Übersetzer des UN-Bataillons, am 21. Juli die Enklave mit den Blauhelmen verlassen: „Ich hatte Glück, dass ich überlebt habe.“
„Zu verkaufen“steht auf vergilbten Zetteln in den dunklen Fensterhöhlen an der Marschall-Tito-Straße. Nur in wenigen Fenstern der stillen Stadt brennt am frühen Abend noch Licht. Längst zählt Srebrenica mehr Gräber als Menschen.
In Potocari sind mittlerweile die mittels DNA-Analyse identifizierten Überreste von 6643 Opfern beerdigt. Die Gesamtbevölkerung der Kommune ist seit Anfang der 90er Jahre von 37.000 auf 4000 gesunken, die Einwohnerzahl in der Stadt selbst von einst 10.000 auf unter 1000 geschrumpft.
Nicht nur die Einschusslöcher in den Fassaden erinnern an die Schrecken des Krieges. Die Folgen der 90er Jahre seien überall zu spüren, berichtet Avdo Purkovic, der Wirt der Pension „Mirsilije“. Waren nach der Jahrtausendwende vertriebene Muslime wieder zurückgekehrt, würden nun muslimische Bosniaken den Ort ebenso wie Serben verlassen: „Die Jungen ziehen weg, weil sie keine Jobs haben – nach Sarajevo, Belgrad oder gleich in den Westen.“Was bleibe, sei ein „Gefühl der Leere“– und die Alten: „Und die sterben auch allmählich weg.“
16 Jahre war Camil Durakovic, als er vor 25 Jahren den serbischen Schergen auf einem tagelangen Fußmarsch durch die Wälder entkam. Jedes Jahr würden die Angehörigen der Opfer am Jahrestag die „drei Phasen ihrer Trauer“erneut durchleben, sagt Srebrenicas früherer Bürgermeister: „Erst 1995, als wir erfuhren, dass unsere Angehörigen ermordet wurden. Dann der Moment, als wir vom DNA-Zentrum in Tuzla die Nachricht erhielten, dass ihre Überreste identifiziert worden seien. Und zum dritten Mal trauerten wir, als wir sie endlich in Potocari beerdigen konnten.“
Das Friedensabkommen von Dayton besiegelte im November 1995 das Ende des Bosnienkriegs – und löste in den Wäldern von Srebrenica hektische Grabungsarbeiten aus. Um den Genozid zu vertuschen, ließ die bosnisch-serbische Armee die Massengräber mit Baggern räumen und verscharrte die halbverwesten Leichen in kleineren Gruben: Die zerfallenden Körper endeten oft in mehreren Gräbern. Die hastige Umbettung erschwert bis heute die Identifizierung Vermisster. Oft warten die Familien mit der Bestattung, bis mindestens der Großteil des Skeletts rekonstruiert worden ist.
Wegen der Corona-Pandemie fällt die Gedenkfeier 2020 kleiner aus, mit virtuellen Grußbotschaften von 30 Staats- und Regierungschefs und mit weniger Bestattungen. Manche Familien haben die Beerdigung verschoben, weil Verwandte aus dem Ausland nicht anreisen können.
25 Jahre nach dem Massaker ist Srebrenica so weit von einer Aussöhnung über den Gräbern entfernt wie ganz Bosnien. Ausgerechnet vor dem Jahrestag des Massakers hat die serbisch dominierte Stadtverwaltung Poster mit Serbiens Präsident Aleksandar Vucic als Dank für Geld aus Belgrad plakatieren lassen. Serbische Nationalisten hatten im Juni gar Plakate des in erster Instanz wegen Völkermords zu lebenslanger Haft verurteilten Kriegsverbrechers Mladic als „Dank für die Befreiung von Srebrenica“aufgehängt.
Die Verharmlosung des Genozids bedeute eine Wiederholung des Verbrechens und bereite den Boden für künftige Völkermorde, sagt Emir Suljagic. Viele seiner serbischen Bekannten würden zwar privat einräumen, dass in Srebrenica Völkermord begangen worden sei, aber offen würde man das nie zu sagen wagen, seufzt Camil Durakovic. Positiv sei nur, „dass wir ohne Gewalt zusammenleben“: „Ich dachte immer, dass sich das Bewusstsein mit der Zeit ändern werde. Aber je mehr Jahre verstreichen, desto mehr scheint die Zeit die Leute zu teilen.“
Ratlos schüttelt auch der Musiker Miroslav seine blonden Rastalocken.
„Srebrenica dreht sich seit einem Vierteljahrhundert im Kreis“, seufzt der Mitbegründer der Kulturinitiative „Srebrenica Wave“. Die jungen Bewohner des Ortes kämen gut miteinander aus und seien weniger am Krieg als an der Zukunft interessiert, versichert der 27-Jährige. Doch egal ob Serben oder Bosniaken – für die verbliebenen Jugendlichen habe sich selbst durch Corona nicht viel geändert: „Wir sind hier schon seit Jahren in der Isolation.“Dabei hat der junge Serbe mit seinem muslimischen Mitstreiter Muamer in der „Pivnica“, der zum Musikclub umgebauten Brauerei, Konzerte mit über 100 Bands organisiert: „Die Leute kommen aus ganz Ostbosnien und selbst aus Serbien zu uns.“Doch der Aderlass lasse sich auch mithilfe der Kultur nicht aufhalten: „Wir wollen hierbleiben und ziehen das Projekt durch, solange wir können. Aber die Leute gehen weg, weil sie hier keine Perspektiven haben – und ein besseres Leben wollen.“
Getragen ruft der Muezzin zum Gebet. Den Glauben an bessere Zeiten in der Geisterstadt Srebrenica hat der ernüchterte Rückkehrer Purkovic längst verloren. „Mit ihrem Potenzial müsste die Stadt in einem viel besseren Zustand sein“, sagt er. Doch statt Investoren anzusiedeln, glänzten serbische und bosniakische Politiker in Sarajevo, Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Teils Bosniens, und im Rathaus von Srebrenica nur durch „Korruption, Unfähigkeit und Desinteresse“.
„Wenn ich nur die Hälfte von dem, was ich investiert habe, wieder herausholen könnte, würde ich die Pension sofort verkaufen und wegziehen“, gesteht der Gastronom. Bosniaken und Serben hätten gemeinsam eine Atmosphäre geschaffen, die die Leute vertreibe. „Und in absehbarer Zeit sehe ich keine Chance, dass sich das ändert.“