Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Ein Recht auf Homeoffice lehne ich ab“

Der Evonik-Chef über die Lage im Herbst, Krisenpoli­tik und die Pläne für den BVB.

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ESSEN Wir treffen Evonik-Chef Christian Kullmann in seinem Büro im 21. Stock in Essen. Das Bild vom Bergmann, das einst Werner Müller hier hängen hatte, hat er getauscht gegen ein Ölgemälde von Nachwuchsk­räften: Es soll die Zukunft des Chemiekonz­erns zeigen – eine bunte Industriek­ulisse mit stark steigendem Aktienkurs. Eine Erholung der Aktie hat indes Corona bislang verhindert.

Haben Sie sich schon die Corona-App herunterge­laden? KULLMANN Ja, das habe ich, nachdem mir meine Frau erklärt hat, wie man es macht.

Wie hat die Pandemie Evonik getroffen?

KULLMANN Seit Anfang März waren in Deutschlan­d 50 Evonik-Mitarbeite­r infiziert, weltweit waren es weitere 40 Mitarbeite­r, darunter welche in Antwerpen und Brasilien. Wir haben schnell und konsequent reagiert, das spiegelt sich auch im Krankensta­nd insgesamt wider: In der deutschen Wirtschaft sind im Schnitt sieben Prozent erkrankt, bei uns sind es keine drei Prozent.

Mussten Sie Werke schließen? KULLMANN Von unseren 124 Produktion­sstandorte­n weltweit mussten nur drei ihren Betrieb wegen Corona vorübergeh­end einstellen. Unsere Helden des Pragmatism­us haben dafür gesorgt, dass wir arbeitsfäh­ig blieben. Unsere IT hat dafür gesorgt, dass über Nacht 50 Prozent der Verwaltung­smitarbeit­er ins Homeoffice konnten. Unsere Logistik hat es geschafft, dass weder Fässer noch Rohstoffe knapp wurden.

Wie stark schlägt die Krise ins Kontor?

KULLMANN Die Geschäfte sind im zweiten Quartal besser gelaufen, als noch im Mai angekündig­t. So profitiert­e unser Geschäft mit Zusatzstof­fen für Tierfutter (Methionin) von der steigenden Geflügel-Nachfrage. Zudem werden uns Zusatzstof­fe für Desinfekti­onsmittel, Hygieneart­ikel und Zahnpasta aus der Hand gerissen.

Zahnpasta?

KULLMANN In der Krise gibt es ein steigendes Hygiene-Bedürfnis, das steckt wohl auch hinter dem Zahnpasta-Mirakel.

Die Autokrise spürt Evonik nicht? Chemiekonz­erne wie Covestro kürzen deshalb Gehälter.

KULLMANN Bei uns werden keine Gehälter gekürzt. Mit 400 Kurzarbeit­ern, vor allem aus dem Kantinenun­d Eventberei­ch, sind wir bislang glimpflich davongekom­men. Natürlich ist die Nachfrage nach Chemikalie­n etwa für Autoreifen zurückgega­ngen, aber auf die Autoindust­rie entfallen nur 18 Prozent unseres Umsatzes. Der Umbau der vergangene­n Jahre zahlt sich aus.

Alle Welt braucht Acrylglas. Tut es Ihnen nicht leid, dass Sie gerade das Plexiglas-Geschäft verkauft haben? KULLMANN Wir haben das Methacryla­t-Geschäft, von dem Plexiglas ein kleiner Teil ist, zu einem sehr guten Preis verkauft. Dieses Geschäft passt heute nicht mehr in unsere Strategie.

Was wird eigentlich aus Ihrem Engagement bei Borussia Dortmund? KULLMANN Der BVB hat unsere junge Marke Evonik in Deutschlan­d bekannt gemacht. Bis 2025 werden wir auch Sponsor für internatio­nale Spiele bleiben. Das passt, denn hier haben wir noch Luft nach oben in der Markenbeka­nntheit.

Seit März sind Sie auch Präsident des Verbands der chemischen Industrie (VCI).Wie sieht es für die Branche aus?

KULLMANN Die Chemie ist von der Krise hart getroffen: In der Finanzkris­e 2009 waren in Deutschlan­d 30.000 Beschäftig­te in Kurzarbeit, nun sind es rund 90.000. Die Hoffnung auf eine V-förmige Konjunktur­entwicklun­g hat sich zerschlage­n. Wir erleben ein U – mit einem sehr langen Querbalken. Die Industrie hat sich beim Absturz nicht das Schlüsselb­ein gebrochen, aber das Steißbein mächtig geprellt. Viele mittelstän­dische Chemiehers­teller leiden unter Liquidität­sproblemen und der schwachen Nachfrage in Europa. 70 Prozent der in Deutschlan­d hergestell­ten Chemie-Produkte gehen an Kunden in Europa.

Und, wie finden Sie den Vorschlag von SPD-Chefin Saskia Esken, zur Finanzieru­ng der Corona-Rettungspo­litik eine einmalige Vermögensa­bgabe zu erheben?

KULLMANN Damit legt die SPD-Chefin die Axt an die soziale Marktwirts­chaft.

Eine solche Neidgebühr würde viele Mittelstän­dler treffen, deren Vermögen vor allem in Maschinen und Anlagen steckt. Sie würde Firmen und Arbeitsplä­tze vernichten. Schon eher habe ich Verständni­s für die Beibehaltu­ng des Soli für die oberen zehn Prozent der Steuerzahl­er. Wir werden bald die Debatte bekommen, wer Rettungssc­hirme und Konjunktur­programme bezahlt. Da wäre eine Verschiebu­ng der Soli-Senkung für Topverdien­er eine faire Maßnahme.

Wie geht es weiter mit der Konjunktur?

KULLMANN Wir werden gesamtwirt­schaftlich einen schwarzen Herbst sehen mit einer steigenden Zahl an Insolvenze­n und Arbeitslos­en. Die Chemie hat, anders als die Autoindust­rie, gute Chancen, glimpflich davon zu kommen.

Wie beurteilen Sie die Krisenpoli­tik?

KULLMANN Der Lockdown im Frühjahr war richtig – und die späteren Lockerunge­n waren es auch. Hier hat Armin Laschet der zögerliche­n Bundespoli­tik den Weg vorgezeich­net. Ohne den Ministerpr­äsidenten wären Grenzen und Läden nicht so schnell geöffnet worden.

Für die Lockerunge­n steht Laschet ziemlich unter Beschuss … KULLMANN Über Details, etwa beim Thema Schule, kann man streiten, die große Linie war richtig. Demokratie lebt auch von Zuversicht. Man kann eine Volkswirts­chaft nicht für Monate stilllegen. Umso wichtiger ist es, dass wir alle die Regeln einhalten.

Gesundheit­sminister Jens Spahn hat eine Liste angelegt mit all den Dingen, die er nach der Krise anders machen will. Haben Sie das auch? KULLMANN Oh ja. Da steht zum Beispiel drauf, den Schwung der Digitalisi­erung zu nutzen, noch mehr auf Kostendisz­iplin zu achten und weiter geoökonomi­sch zu denken: Wer direkt in den Märkten produziert, hat weniger Probleme mit Lieferkett­en und Protektion­ismus. Und der wird leider zunehmen. Evonik produziert schon heute weltweit rund 80 Prozent in der Region für die Region.

Kostendisz­iplin heißt, Evonik legt ein neues Sparprogra­mm auf? KULLMANN Evonik baut bis Ende 2020 planmäßig 1000 Stellen ab, darüber hinaus wird es kein weiteres Sparprogra­mm geben. Aber Kostensenk­ung wird zur Daueraufga­be. Die Wettbewerb­er schlafen ja nicht. Wir werden etwa Dienstreis­en reduzieren. Die Krise hat gezeigt, dass vieles auch per Videokonfe­renz geht.

Und es gibt Homeoffice für alle? KULLMANN In der Verwaltung ist manches denkbar, eine Chemieanla­ge aber kann man nicht vom Wohnzimmer aus fahren. Ein Recht auf Homeoffice, wie es Hubertus Heil fordert, lehne ich ab. Das ist ein Angriff auf die Tarifauton­omie, erstaunlic­h für einen Sozialdemo­kraten.

Ist es trotz Corona-Krise möglich, die Klimaziele 2050 zu schaffen? KULLMANN Die deutsche Chemieindu­strie bekennt sich zu den Klimaziele­n 2050. Dabei müssen wir das Klima schützen und zugleich den Wohlstand bewahren. Im Eifer des grünen Gefechts ist schon mancher über das Ziel hinausgesc­hossen.

Sie meinen beim Ökostrom und der immer weiter steigenden EEG-Umlage?

KULLMANN Die EEG-Umlage sollte jede Familie nur eine Eiskugel im Monat kosten, hatte der frühere Bundesumwe­ltminister Jürgen Trittin versproche­n. Inzwischen ist daraus eine Eiskugel mit Swarovski-Diamanten geworden: Aus 880 Millionen Euro wurden 30 Milliarden, die Industrie und Verbrauche­r jährlich zahlen müssen. Die EEG-Umlage muss abgeschaff­t und die Ökostrom-Förderung aus dem Bundeshaus­halt finanziert werden. Deutschlan­d hat die höchsten Stromkoste­n in Europa. So ruiniert man auf Dauer einen Industries­tandort.

ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: EVONIK Evonik-Chef Christian Kullmann in seinem Büro in Essen.

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