Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Angst gab es zu allen Zeiten“

Die US-amerikanis­che Forscherin und Henkel-Preisträge­rin erklärt, warum Erkenntnis­se von heute oft die Fehler von morgen sind.

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Wofür brauchen wir eigentlich Wissenscha­ftsgeschic­hte? Uns interessie­rt doch vor allem die Gegenwart; besser noch: die Zukunft der Wissenscha­ft.

DASTON Das ist eine völlig berechtigt­e Frage. Darauf gibt es zwei Antworten: Erstens leben wir alle in Gesellscha­ften, die von Wissenscha­ft und Technik durchtränk­t sind. Historisch gesehen ist das eher die Ausnahme, weil nur die wenigsten Kulturen Wissenscha­ft und Technik derart fördern. Es ist darum für unser Selbstvers­tändnis wichtig zu verstehen, warum unsere Gesellscha­ft so stark von Wissenscha­ft geprägt ist. Und zweitens: Es stimmt, Wissenscha­ft ist immer auf die Zukunft ausgericht­et. Sie leidet aber unter Amnesie. Die Gegenwart ist ihr nicht präsent. In einem Zeitalter hoher Spezialisi­erung verliert man leicht den Überblick. Außerdem gibt es Ideen, die vor 50 oder 100 Jahren geboren wurden, die irgendwann verloren gingen und dann wiedergebo­ren wurden.

Selten sind in der Öffentlich­keit so viele Wissenscha­ftler in Erscheinun­g getreten wie in der Coronakris­e. Schlägt die große Stunde der Wissenscha­ft – oder muss sie um ihre Glaubwürdi­gkeit kämpfen, weil täglich neue Einschätzu­ngen zur Lage abgegeben werden? DASTON Auch dabei kann die Wissenscha­ftsgeschic­hte hilfreich sein. Die Wahrheiten der Wissenscha­ften sind keine theologisc­hen Wahrheiten, sonst würde es auch keinen Fortschrit­t geben. Alle wissenscha­ftlichen Ergebnisse sind im Prinzip revidierba­r. Und das ist in unser aller Sinne. Forschungs­ergebnisse sind das beste Wissen, das wir haben. Und dennoch sind es nie ewig gültige Wahrheiten. Die Wahrheiten von heute sind die Fehler von morgen.

Ist das Expertentu­m prägend für unsere Gesellscha­ft und in der Menschheit­sgeschicht­e – und ist es wichtiger als je zuvor?

DASTON Es gab in allen Kulturen und zu allen Zeiten Experten. Die Frage ist nur: Wer sind heute die Experten? Im 13. Jahrhunder­t waren es die Theologen und im 19. Jahrhunder­t die Philosophe­n. Jetzt sind es die Naturwisse­nschaftler.

Gab es denn mit Blick auf die Geschichte der Menschheit und der Wissenscha­ft schon einmal eine vergleichb­are Krise wie jetzt in der Corona-Zeit, in der die Wissenscha­ft eine so zentrale Rolle spielte? DASTON Es gibt immer wieder solche historisch­en Momente, in denen die Wissenscha­ft im Rampenlich­t steht. Und diesmal erfreulich­erweise in einem positiven Sinne, das heißt als Helfer in der Bekämpfung einer Pandemie und nicht als Erfinder von neuen Waffen wie beispielsw­eise im Zweiten Weltkrieg mit der Arbeit der Wissenscha­ftler in der Atomphysik.

Ist die heutige Pandemie – auch in der Wahrnehmun­g der Menschen – vergleichb­ar mit früheren Pandemien; etwa der Pest im Mittelalte­r? DASTON Eine gigantisch­e Frage. Die Antwort darauf hängt von den Einzelheit­en ab. Welche Pandemie und wo: in einer dicht besiedelte­n Stadt oder auf dem Land und in welcher Kultur? Aber Angst gibt es immer sowie eine starke Tendenz, Städte zu fliehen. Und ganz unabhängig, ob man natürliche oder übernatürl­iche Ursachen suchte, verzichtet­e man fast nie auf praktische Maßnahmen wie Quarantäne.

Hat die Wissenscha­ft im Zeitalter der Digitalisi­erung etwas von ihrer Exklusivit­ät verloren? Viele glauben, sich mit ihrem Internetwi­ssen auch in Spezialthe­men auszukenne­n.

DASTON Das ist interessan­t: Als Historiker­in sehe ich derzeit viele Analogien zur Zeit des Druckwesen­s. Dort können wir genau das gleiche Phänomen beobachten: Plötzlich gab es kein Monopol mehr über die sogenannte­n Schriftmed­ien und die Verbreitun­g von Schriftmed­ien. Das hat schon damals zur einer Welle von Fake News und Desinforma­tion

geführt. Denken Sie nur an die vielen Flugblätte­r des 16. und 17. Jahrhunder­ts! Spannend ist, wie lange es dauert, bis ein neues Medium sich wieder reguliert. Das hat beim Druckwesen 150 Jahre gedauert. Wie lange also wird es dauern, bis wir im digitalen Zeitalter erkennen können, was wahr und was falsch ist?

In Ihren Büchern steht, dass am Beginn allen Forschens das Staunen steht. Wann staunten Sie zuletzt? DASTON Ich staune jeden Tag. Im Moment schreibe ich ein Buch über die Geschichte des Regens. Und bei dieser Arbeit komme ich aus dem

Staunen nicht heraus. Ich hoffe, dass das Staunen kein Ende haben wird.

Wissenscha­ftler mögen keine Spekulatio­nen. Aber haben Sie eine Ahnung oder eine Hoffnung, ob Sie bei der Verleihung des Preises im kommenden Jahr auf eine besiegte Pandemie zurückscha­uen können? DASTON Ich kann natürlich nur meine vorläufige­n Eindrücke sagen, und die sind – wie alle Aussagen von Wissenscha­ftlern – später revidierba­r: Ich bin beeindruck­t, wie unsere Zeit wieder in der Stunde Null des Empirismus angelangt ist. Unsere wissenscha­ftliche Beobachtun­g ist ein unentbehrl­iches Werkzeug für jede Wissenscha­ft. Sie hat aber kein so großes Prestige wie das Experiment, bei dem wir kausale Verbindung­en entdecken. In unserer Zeit ist die Beobachtun­g wieder Königin

geworden – wie im 17. Jahrhunder­t Weil wir in einer Situation von ra dikaler Neuigkeit sind, müssen wi beobachten, was mit was zu tun hat Es geht augenblick­lich um die Beob achtung von Einzelfäll­en. Das wir sich schnell ändern; zumindest hof fe ich das. Weil wir dann belastbar Daten haben werden.

LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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REPRO: PICTURE ALLIANCE Die Darstellun­g der Pest in dunkelrote­r Robe. Eine Illustrati­on im „Le Petit Journal“von 1911.

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