Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„So lange keinen Kontakt zu den Kindern zu haben, ist für eine Mutter kaum zu ertragen“
KREIS METTMANN Das Haus von Kathrin S. (Namen der Familie geändert) ist darauf ausgelegt, dass Kinder sich hier wohlfühlen. Das Wohnzimmer ist groß und hell, eine Glasfront öffnet sich zum Garten mit Schaukel und Sandkasten. Oben gibt es drei Kinderzimmer, unten steht eine kleine Küche aus Plastik, am Kühlschrank hängen selbstgemalte Bilder. Doch Kinder wohnen hier schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr. Im März 2019 wurde S. vom Familiengericht Mettmann das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen und an ihren Ex-Mann übertragen. Sohn Henry war damals vier Jahre alt, Tochter Mia zehn.
Ihre Tochter sieht sie danach ein Jahr lang nicht, den Sohn trifft sie nach fünf Monaten ohne Kontakt durchschnittlich zwei Mal im Monat, zunächst in Begleitung von Umgangspflegern. Der Kindsvater lebt mit den Kindern bei seinen Eltern in Düsseldorf. Auf Anfrage wollten sich weder er noch sein Anwalt zu dem Verfahren äußern. Kürzlich verweigerte er den erst im März vom Familiengericht Düsseldorf angeordneten unbegleiteten Umgang. Dafür wurde er zu einem Ordnungsgeld verurteilt, die Umgänge wurden nachgeholt. Mehr als einen Monat hatte S. erneut keinen Kontakt zu ihren Kindern. „Das ist für eine Mutter kaum zu ertragen“, sagt sie.
Seit mehr als einem Jahr kämpft Kathrin S. um das Sorgerecht und regelmäßigen, unbegleiteten Umgang. Die Unterlagen füllen mehr als 30 Ordner. Zum Arbeiten kommt die Selbstständige kaum noch, ihr Erspartes ist fast aufgebraucht. S. schildert ihre Sicht auf den Fall kontrolliert und ruhig, nur kurz blitzt immer wieder Fassungslosigkeit auf. „Es ist ein Albtraum, der nicht endet“, sagt sie dann etwa. Und: „Das Vertrauen in den Rechtsstaat habe ich verloren.“
Seit 2016 sind S. und ihr Ex-Mann kein Paar mehr. Als sie sich knapp fünf Jahre zuvor kennenlernen, ist S. bereits Mutter zweier Kinder: Eric, heute 20, und Mia. Die Familie wohnt in dem großen Haus in einem Neubaugebiet im Kreis Mettmann, das
S. 2007 gebaut hat. Das Mädchen wurde 2011 von S. als alleinerziehender Mutter aus dem Ausland adoptiert. 2013 adoptierte S.s Ehemann es ebenfalls. Zuvor wurde S. vom Jugendamt überprüft. Dazu gehören unter anderem eine Bewertung der persönlichen Lebens- und Einkommenssituation sowie mehrere Gespräche und ein Gutachten. Kathrin S. wurde damals für uneingeschränkt erziehungsfähig erklärt, wie das Jugendamt Mettmann auf Anfrage bestätigt. 2014 kam Sohn Henry zur Welt.
Von Anfang an stritt das Paar viel und heftig. Sie sagt, er wurde ihr gegenüber immer wieder handgreiflich, Sohn Eric bestätigt das in einer eidesstattlichen Versicherung. Am 13. Juni 2012 eskalierte erneut eine Auseinandersetzung, S. rief die Polizei. Laut deren Bericht sagte sie aus, er habe sie mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und geschubst. Er wurde der Wohnung verwiesen, ein Klinikattest bescheinigt ihr Prellungen und Verletzungen am Kopf. 2016 trennte sich das Paar. Die Kinder blieben danach bei ihr, beide Eltern beanspruchten das Sorgerecht. In einem familienpsychologischen Gutachten von Mai 2018, das vom Familiengericht Mettmann in Auftrag gegeben wurde, wurden beide als erziehungsfähig eingeschätzt. Das Gericht gab jedoch Ende 2018 ein zweites Gutachten bei einer anderen Gutachterin in Auftrag. Noch bevor dieses vorlag, wurde S. am 20. März 2019 auf Antrag des Kindsvaters im Eilverfahren und ohne Anhörung das Sorgerecht entzogen und ihm zugesprochen. S. und ihr Anwalt halten die Richterin für befangen und versuchen, auch das Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht Düsseldorf verhandeln zu lassen. Bislang erfolglos, die nächste Verhandlung ist für August terminiert.
Tochter Mia lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Monaten beim Vater, der sie laut S. nach einem Besuch nicht zurückgebracht hatte. Sohn Henry wurde einen Tag später ohne Wissen der Mutter vom Vater aus der Kita abgeholt. Den Gerichtsbeschluss erhielt sie erst einige Tage später. Begründet wurde die Entscheidung mit einer drohenden Kindeswohlgefährdung. S. zufolge stützt sich diese Einschätzung vor allem auf Aussagen einer Ergänzungspflegerin, die vom Jugendamt eingesetzt wurde, um den Kontakt zwischen den Eltern zu erleichtern. Diese hält S. jedoch für nicht neutral.
Ihr Anwalt Pajam Rokni-Yazdi, der auf komplizierte Sorgerechtsfälle spezialisiert ist, teilt diese Ansicht und sagt, es komme immer wieder vor, dass Verfahrensbeteiligte beim Familiengericht im Konflikt der Eltern Partei ergriffen. Dann werde nach Beweisen gesucht, um ein Elternteil in Misskredit zu bringen und so auch Eingriffe in das Sorgerecht zu rechtfertigen, sagt Rokni-Yazdi: „Die Interessen der Kinder werden nicht mehr in den Blick genommen.“Das treffe auch auf den Fall von Kathrin S. zu. Hier müsse eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung ergehen: „Kinder brauchen beide Eltern.“Unterstützung bekommt S. auch von zwei Umgangsbegleitern der Arbeiterwohlfahrt Düsseldorf. Einer von ihnen meldete erstmals im September 2019 in einem Bericht an das Düsseldorfer Jugendamt Zweifel an der Unparteilichkeit der Frau an, eine Kollegin schrieb im Januar 2020, dass diese nicht neutral sei – und keinesfalls geeignet, die Übergabe der Kinder weiter zu begleiten. Zudem schildert sie Henrys große Verlustängste in Bezug auf seine Mutter und empfiehlt: „Ein kontinuierlicher Kontakt zur Kindsmutter sollte Henry in jedem Fall gesichert werden.“
Dennoch sieht S. die Kinder bis heute nur unregelmäßig. Das liegt auch am zweiten psychologischem
Kathrin S. Mutter
„Diese Diagnose ist als Grundlage für die Trennung von Müttern und Kindern Scharlatanerie“
Wolfgang Hammer Soziologe
Gutachten von September 2019. Darin wird ihr im Widerspruch zum ersten Gutachten eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. S. agiere impulsiv, launenhaft und streitsüchtig und nehme keine Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Kinder, heißt es darin. Sie habe „ein starkes Bedürfnis nach einer symbiotischen Beziehung“zu ihren Kindern, besonders zur Tochter und sei – im Gegensatz zum Kindsvater – nicht erziehungsfähig.
Eltern gegen ihren Willen ihre Kinder zu entziehen, ist in Deutschland mit hohen Hürden belegt. Die Familie steht unter besonderem Schutz, und ein Entzug der Kinder ist laut Artikel 6 Grundgesetz nur dann erlaubt, „wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“. Das Bundesverfassungsgericht hat dies 2014 noch einmal präzisiert: Das Kind müsse in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sein, um eine solche Maßnahme zu rechtfertigen. Geklagt hatte eine Mutter, der die Tochter wegen einer angeblich symbiotischen Beziehung entzogen worden war. Vom Gericht hieß es dazu, dass ein Kind durch „überfürsorgliches Bemuttern“gehemmt werden könne – dafür müsse aber festgestellt werden, dass es „von Außeneinflüssen ganz abgeschottet und seelisch völlig abhängig von der Mutter ist mit der Folge von Entwicklungsrückständen oder psychosomatischen Erkrankungen“.
Davon ist in dem Gutachten zu Kathrin S. keine Rede. Darin schreibt die Gutachterin in Bezug auf die von ihr diagnostizierte symbiotische Beziehung lediglich: „Frau S. nimmt die Verselbstständigung der Tochter als bedrohlich wahr, weil ihr eigenes Bedürfnis nach [sic.] symbiotischen Beziehung nicht mehr befriedigt wird. Sie reagiert eifersüchtig auf andere [sic.] Bezugspersonen des Kindes.“Nicht nur S. kann das nicht nachvollziehen.
Der Psychologe und forensische Gutachter Uwe Tewes hat das Gutachten in ihrem Auftrag unter die Lupe genommen – und fällt ein eindeutiges Urteil: Die Diagnose sei nicht nach den Regeln des Fachs gestellt worden, „sondern aufgrund einer gewissen Voreinstellung“der Gutachterin, wie er in einer Stellungnahme schreibt. Der Befund der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung sei aus dem Gutachten in keiner Weise nachzuvollziehen, dieses weise zudem „gravierende formale Mängel auf, mit Verstößen gegen fast alle Leitlinien und Vorgaben der interdisziplinären Fachkommissionen und einschlägiger Fachbücher“. Die Diagnose stütze sich nicht auf relevante Kriterien, sondern „eher auf den allgemeinen persönlichen Eindruck der Gutachterin“. Bei dem Verdacht auf eine Störung der Mutter-Kind-Beziehung handele es sich um eine bloße Behauptung – „ein schwer nachvollziehbarer Mangel, der inzwischen wohl auch gravierende Folgen für die Mutter und das
Kind hatte“.
Auf Anfrage sagt Tewes, der immer wieder mit familienrechtlichen Fällen zu tun hat, dass ihm schon häufiger teils extrem fehlerhafte Gutachten vorgelegt worden seien. Das habe auch damit zu tun, dass qualifizierte Gutachter knapp seien und daher häufiger solche beauftragt würden, „denen die entsprechende Feldkompetenz fehlt“.
Dieses Problem sieht auch der Soziologe Wolfgang Hammer, der bis 2013 die Abteilung für Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde leitete. Er sagt, dass bei Inobhutnahmen immer wieder gegen die Rechte von Familien und vor allem von Müttern verstoßen wird: „Seit einigen Jahren berichten mir immer wieder Betroffene und deren Anwälte, aber auch Jugendamtsmitarbeiter davon.“In einer Studie hat er vor Kurzem 42 besonders gut dokumentierte Fälle analysiert – in denen mehrheitlich alleinerziehenden Müttern ihre Kinder entzogen wurden, ohne dass es Hinweise auf Misshandlungen oder eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Kinder gegeben hätte. Die Mütter waren zum Großteil gut ausgebildet und berufstätig. In 39 Fällen spielte dabei die auch bei Kathrin S. diagnostizierte symbiotische Mutter-Kind-Beziehung eine Rolle.
Für Hammer ist das ein Skandal: „Diese Theorie ist als Grundlage für die Trennung von Müttern und Kindern reine Scharlatanerie und in vielen Ländern wie Kanada oder Großbritannien als Beweismittel sogar verboten“, sagt der Soziologe. Häufig seien das Hauptproblem in solchen Fällen fehlerhafte Gutachten. Im Nachgang seiner Studie erreichten ihn nach eigener Aussage so viele neue Fälle, dass er mittlerweile an einer ausführlicheren Untersuchung arbeitet. Gleichzeitig hat das Mainzer Institut für Kinder- und Jugendhilfe im Auftrag des Bundesfamilienministeriums problematische Kinderschutzverläufe ausgewertet. In einem vorläufigen Abschlussbericht heißt es, dass es aus Sicht der Betroffenen vor allem an der Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Familiengerichtsbarkeit hapere. Zudem forderten viele von ihnen verbindliche Qualitätsstandards „im Hinblick auf die Qualifikation und Prozessgestaltung von Verfahrensbeiständen und Gutachterinnen und Gutachtern“sowie die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen.
Für Kathrin S. könnten diese Neuerungen zu spät kommen. In den vergangenen beiden Monaten hat sie Mia und Henry regelmäßig gesehen und schildert dies als intensive und schöne Zeit. „Man sieht aber auch, dass die Kinder in einem Loyalitätskonflikt sind. Das ist sehr belastend für mich und für meine Kinder“, sagt S. Henry etwa wisse nicht mehr, dass er mit Nachnamen so heiße wie sie, Mia versuche immer wieder, über Whatsapp Kontakt zu ihr aufzunehmen, was der Vater aber unterbinde. Kathrin S. ist überzeugt: „Meine Kinder laufen Gefahr, ihre Mutter zu verlieren.“