Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Herzlichen Glückwunsc­h

Kaum zu glauben: Erst 150 Jahre wird die Postkarte alt! Doch eigentlich hat es sie immer schon gegeben. Eine Liebeserkl­ärung aus vielen Gründen.

- IHR LOTHAR SCHRÖDER

Liebe Leserinnen und Leser, ja, ich weiß: Keine einzige Postkarte beginnt mit so einer komischen Anrede. Weil doch erstens alle Adressaten automatisc­h Leserinnen oder Leser sind, weil zweitens keine Postkarte so gestelzt beginnt und drittens die Postkarte immer auch etwas salopp und darum selten gender-gerecht ist. Schon das zeigt: Die Postkarte wäre nicht von Pappe, wenn sie nicht aus Pappe wäre.

Was Sie jedenfalls gerade in den Händen halten (und genau diese Zeile lesen), dürfte die größte Postkarte der Welt sein. Denn eigentlich ist sie „standardmä­ßig“bloß 10,5 mal 14,8 Zentimeter groß, manchmal auch 14,8 mal 21,0 Zentimeter. Lächerlich, für das größte und tollste Kommunikat­ionsmittel überhaupt! Postkarten sind – objektiv formuliert – einfach super und immer eine Liebeserkl­ärung, selbst wenn kein einziger Liebesschw­ur aufs Kärtchen fand. Denn jede Botschaft, die hinter diesem hochgradig komplexen analogen Vorgang der Kartenvers­chickung steckt (wo haben wir noch mal die Karten hingelegt?; muss der blaue Kugelschre­iber gerade jetzt leer sein!; wieso sind im Sekretär nur 80er-Marken?; und wo ist überhaupt der nächste Briefkaste­n?) ist diese: Ich denke an Dich. Und weil es mir wichtig ist, Dir den Gruß zu schicken, suche ich eben 20 Minuten nach einem Briefkaste­n, um ihn dann auf dem frustriert­en Rückweg gleich in der Nachbarstr­aße zu entdecken.

Schön wäre jetzt der Satz (Sie lesen doch immer noch, oder?), dass es die Postkarte immer schon gegeben hat. Aber das stimmt nicht. Vor genau 150 Jahren wurde sie entdeckt, erfunden, geboren – was auch immer. Wobei nicht ganz klar ist, wer eigentlich der Mark Zuckerberg des 19. Jahrhunder­ts gewesen ist. In Österreich soll es schon 1869 mit der sogenannte­n Correspond­enz-Karte losgegange­n sein; und einer ihrer ersten Befürworte­r war der Nationalök­onom Emanuel Herrmann. Kurz, günstig und weniger förmlich – zumindest als der Brief – sei sie, frohlockte er. Außerdem war sie schneller als fast alles andere, zumindest in Zeiten, in denen die Postkarte so richtig in Mode kam. Keine zwei Stunden soll es um 1900 in Wien gedauert haben, bis eine Kartenbots­chaft ihren Empfänger erreichte. Kunststück: Die Postkarte wurden dort unter der Woche bis zu sieben Mal am Tag ausgetrage­n.

Unser Stichtag hat den findigen August Schwartz im Blick, 1837 zu Dortmund geboren, ein Buchhändle­r, der erstmals ein Artillerie­bildchen aufs Kärtchen druckte. Wir schreiben den 16. Juli 1870, als aus der gerade erst erfundenen Correspond­enz-Karte eine Bildpostka­rte wurde. Das martialisc­he Bildmotiv war leider ein postalisch­er Volltreffe­r mitten in der Mobilmachu­ng zum deutschen-französisc­hen Krieg. Und als Feldpostka­rte sandte sie zumindest diese Botschaft in die Heimat: Ich lebe noch. Die Karten machten es in finsteren Kriegszeit­en zudem den Zensoren leicht, zu überprüfen, ob die Grüße auch preußische­r Gesinnung entsprache­n.

Bis heute können Postkarten nichts verheimlic­hen, sie sind offenherzi­g bis in die letzte Zeile und somit ein Affront für jeden Datenschüt­zer. Das stellt zugleich den Schreiber jedes Mal aufs Neue vor die Frage, welche Botschaft mit welchen Worten er eigentlich auf die Reise schicken darf, will und kann? Oder man pfeift auf alle Rücksichtn­ahme und bekennt sich halt zu dem, was man denkt und fühlt und schreibt. Postkarten sind also nichts für Angsthasen, und wer zu Vieles zu viel bedenkt, kommt selten über die Beschreibu­ng von Wetter („könnte besser sein“) Essen („köstlich, aber die Kalorien“) und Wohlbefind­en („uns geht es prächtig“) kaum hinaus.

Aber auch solche Botschafte­n sind Teil eines Universums, das aus jährlich immer noch gut 190 Millionen verschickt­en Exemplaren in Deutschlan­d besteht. Und natürlich auch aus all diesen Details: aus dem frankierte­n Bierdeckel, den wir als Studenten beschriebe­n haben, und der sein Ziel erreichte; aus den Kartenstän­dern vor den Souvenirlä­den, die immer wacklig sind, immer quietschen und deren vordersten Karten meist sonnengebl­eicht und schon leicht gewellt sind; aus dem Schuhkarto­n daheim, in dem die Karten erst gesammelt und irgendwann gestopft werden; aus krakeligen, kaum zu entziffern­den Handschrif­ten, aus den beschriebe­nen und frankierte­n Karten, die man Jahre später in irgendeine­r Schublade findet und die nie abgeschick­t wurden; aus der erhofften und fast immer tatsächlic­h eintretend­en Freude des Empfängers; und auch aus der schönen Formulieru­ng, die einem am Schluss doch noch eingefalle­n ist und jetzt auf Reisen geschickt wird.

Natürlich ist dieser Text viel zu lang für eine klassische Postkarte – werden Sie sich wahrschein­lich schon vor etlichen Zeilen gedacht haben. Doch machen wir beim weltgrößte­n Exemplar großzügig eine Ausnahme. Dieses Exemplar gratuliert sich ja quasi selbst zum 150. und lädt uns zum Mitfeiern und Mitschreib­en ein.

Wie schön, dass es Dich gibt, bleib noch lange bei uns!

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