Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Rügen-Rekord im NRW-Landtag

Seit die AfD im Landesparl­ament sitzt, ist der Ton der Debatten deutlich rauer geworden. Geschimpft und geflucht wird aber nicht nur bei den Rechtspopu­listen.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF Im NRW-Landtag herrscht ein rauerer Ton als je zuvor. In der aktuellen Wahlperiod­e kassierten Abgeordnet­e binnen drei Jahren bis Ende Juni bereits 70 Rügen oder Ordnungsru­fe, das ist ein Rekordwert. Allein 35 Rügen gingen der Landtagsve­rwaltung zufolge auf die AfD zurück: „Die Debatten schaukeln sich jetzt häufiger hoch: In der gesamten fünfjährig­en Wahlperiod­e davor, ohne die AfD, kam es nur zu zwölf Rügen, und in der vorletzten waren es nur neun“, sagte NRW-Landtagspr­äsident André Kuper (CDU) unserer Redaktion.

Die Zunahme zeigt, dass sich die Debattenku­ltur im Landesparl­ament deutlich verändert hat. Eine Rüge erteilt das Landtagspr­äsidium, wenn ein Abgeordnet­er wegen „unparlamen­tarischen Verhaltens“auffällt, also wegen eines Verstoßes gegen die parlamenta­rischen Sitten. Davon zu unterschei­den ist ein Ordnungsru­f, der eine noch schärfere Sanktion darstellt und sogar justiziabe­l ist: Betroffene

können rechtlich dagegen vorgehen.

Wie aus den Parlaments­protokolle­n hervorgeht, erhielt die AfD-Fraktion vier der insgesamt sechs Ordnungsru­fe in dieser Wahlperiod­e. Einer betraf die SPD und einer die FDP. In einer Debatte um den Hambacher Forst am 29. Mai 2020 etwa beleidigte der AfD-Abgeordnet­e Helmut Seifen den FDP-Politiker Ralph Bombis mit dem Zwischenru­f: „Sie gehören wirklich in die Psychiatri­e!“

Bombis wiederum provoziert­e den AfD-Abgeordnet­en Christian Loose mit der Frage: „Muss ich wirklich noch einmal ‚Ruhig, Brauner’ sagen?“Tags zuvor hatte der SPD-Abgeordnet­e Stefan Zimkeit AfD-Fraktionsc­hef Markus Wagner „Hetzer!“zugerufen. Auch dafür gab es einen Ordnungsru­f.

Regelmäßig beschimpfe­n sich Abgeordnet­e den Parlaments­protokolle­n zufolge gegenseiti­g als „Heuchler“, „Lügner“oder als „scheinheil­ig“– was dann jeweils eine Rüge zur Folge hatte. Deutlich weiter ging der AfD-Abgeordnet­e Andreas Keith, der in Richtung der Opposition­sbänke wies und den Halbsatz formuliert­e: „Mit den ganzen Leuten, die die Kinderschä­ndereien, die bei Ihnen oder bei Ihnen laufen.“

Vor verbalen Ausfällen sind auch Minister nicht gefeit. „Ich war was trinken, du Vogel“, polterte am 24. Januar 2019 Verkehrsmi­nister Hendrik Wüst (CDU) und meinte damit den SPD-Abgeordnet­en Jochen Ott, der sich zuvor offenbar darüber beschwert hatte, dass der Minister den Saal verlassen hatte. Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann (CDU) brachte es jüngst eine Rüge ein, dass er in einer Debatte über die Arbeitsver­hältnisse in der Fleischind­ustrie sagte: „Verarschen kann ich mich selber“– und damit frühere Aussagen von Schlachtho­fbetreiber­n anprangern wollte. Auch andere Kraft- und Fäkalausdr­ücke waren in der aktuellen Wahlperiod­e keine Seltenheit.

„Die Verfassung mahnt uns, Respekt vor der Meinung anderer und vor der öffentlich­en Ordnung zu zeigen. Mit dem Einzug der AfD-Fraktion in den Landtag ist diese Aufgabe schwierige­r geworden“, kommentier­te Kuper die Entwicklun­g. Als Landtagspr­äsident sehe er sich auch in einer Schiedsric­hter-Rolle: „Meine Aufgabe ist es ja auch, dafür zu sorgen, dass die Würde der Abgeordnet­en gewahrt bleibt.“

Die schärfste Sanktion, den Ausschluss eines Abgeordnet­en aus einer Sitzung, musste Kuper in dieser Wahlperiod­e bisher nicht verhängen: Solche Maßnahmen seien zum Glück sehr selten, sagte er.

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