Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ohne Willkür geht es nicht
Die Obergrenzen etwa für Feiern sind letztlich nicht begründbar, sie folgen pragmatischen Entscheidungen. Denn Politik funktioniert anders als die Wissenschaft. Das erklärt aber, warum sich so viele Menschen gegängelt fühlen.
Bald dürfen in Nordrhein-Westfalen nur noch 50 Menschen in einem öffentlichen Raum fröhlich sein: Bei wichtigen Feiern wie Hochzeiten gilt diese Marke der Landesregierung als Obergrenze, wenn die Zahl der Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche über 35 steigt. Sind es mehr als 50, dürfen nur noch 25 Leute zur Familienfeier. Inzidenzen, Obergrenzen, 25, 50 – vielen Menschen schwirrt der Kopf. Womöglich auch, weil sich selbst geduldige Regel-Befürworter fragen, woher die Verantwortlichen ihre Zahlen eigentlich nehmen. Und wie belastbar sie sind. Warum 50 Feiernde okay sein sollen, 60 dagegen nicht mehr.
Die Wahrheit ist: Absolut begründbar sind die Grenzen nicht. Das hat der Virologe Christian Drosten kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“gesagt. Die Politik sei gezwungen, die Werte in ihren Corona-Regelwerken willkürlich festzulegen. Das sei der Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Politiker müsse irgendwann pragmatisch sagen: „Da ist jetzt mal die Grenze.“
Zwei Handlungslogiken treffen während einer Pandemie aufeinander: Die Wissenschaft verfährt grob gesagt nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip. Sie formuliert Fragen, entwickelt Experimente, kommt zu Ergebnissen, zieht Schlüsse. Die gelten so lange, bis andere Experimente oder Überlegungen womöglich andere Schlüsse nahelegen. Das ist nicht unredlich, sondern der Weg, auf dem Forscher sich voranbewegen – immer im Wissen, dass ihr Wissen widerlegt werden kann.
Politiker können so kaum arbeiten. Denn Politiker müssen bei den Bürgern um Vertrauen in ihre Entscheidungen werben und tun das meist, indem sie absolut entschieden dafür eintreten. Als seien die Entscheidungen alternativlos. Sie hoffen so, Zustimmung bei den Wählern zu finden und das zu erhalten, was ihnen ermöglicht, überhaupt handeln zu dürfen: ihre Macht.
Doch die Pandemie mit ihren Unwägbarkeiten zwingt Politiker, sich auf das Versuchsprinzip der Wissenschaft einzulassen. Das lässt sich ablesen an den ständigen Anpassungen von Regeln an das aktuelle Infektionsgeschehen wie gerade wieder am Wochenende. Auch als die Verantwortlichen nach dem Lockdown das öffentliche Leben wieder hochfuhren, gab es viele Beschlüsse, die verrieten, wie die Verantwortlichen sich voranarbeiteten: tastend.
Die politische Formel für dieses experimentelle Verfahren lautet: „Wir fahren auf Sicht.“Was besser klingt als: Wir starten ein Experiment. Doch lässt sich in Wahrheit im Umgang mit einem unbekannten Virus kaum anders verfahren, als Dinge zu probieren – und die Folgen abzuwarten.
Natürlich ist das kein Freifahrtschein für totale Willkür. Politiker bleiben verpflichtet, vorhandene Erfahrungen und Richtwerte in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Das gebietet die Sorgfalt. Und wenn sie es mit ihrer Vorsicht überziehen, wenn Meldepflichten und Hygiene-Ideen offensichtlich Unsinn ergeben, müssen sie ihre Entscheidungen kritisch überdenken – und womöglich zurückrudern. Auch das hat es während der Pandemie ja bereits gegeben.
Die Grenze zwischen faktisch abgewogener Entscheidung und Vortasten ins Ungewisse ist indes fließend. Das erklärt auch, warum es zu Corona-Regeln so viele Meinungen gibt. Und oft auch Wut, wenn der Einzelne in Alltagsfragen zu einer anderen Überzeugung gelangt als der Staat und sich dennoch beugen muss. 50 Gäste, keiner mehr!
Gleich zu Beginn der Pandemie hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Satz gesagt, der schon damals die Zumutungen dieses Verfahrens im Blick hatte: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, sagte er während einer Regierungsbefragung im April. Ungewöhnliche Worte für einen Politiker,
„Ein Politiker muss sagen: Da ist jetzt mal die Grenze.“
Christian Drosten Virologe
der in gewöhnlichen Zeiten möglichst keine Zweifel aufkommen lässt. Doch Corona hat den Entscheidungsprozess verflüssigt. Politiker verfolgen Prognosen, lassen sich Forschungsergebnisse erklären, die immer feiner werden, vergleichen mit anderen Ländern, obwohl die Lage dort immer auch unbekannten Variablen unterliegt. Und dann werfen sie einen Anker in diesen Fluss und sagen: „Da ist jetzt mal die Grenze.“
Vertretbar ist das so lange, wie der Ausnahmezustand anhält und Entscheidungen erzwingt, bevor die Lage gänzlich überschaubar ist. Eine Pandemie verändert ja auch das Verhältnis zur Zeit: Infiziertenzahlen bilden immer einen Zustand ab, der schon vergangen ist. Aus ihnen werden Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen, die mit Wahrscheinlichkeiten operieren müssen. In dieser schwammigen Dimension sind Entscheidungen zu fixen Zeitpunkten fällig. Das macht sie so anfällig für Fehler. Das trifft die Familie, die ihren Urlaubsort festlegen will, genau wie den Minister, der sagt: Wir begrenzen jetzt private Feiern – und sehen, was geschieht.
Politiker müssten pragmatisch sein, hat der Virologe Drosten im Interview auch gesagt. In der Wissenschaftstheorie ist der Pragmatismus eine Richtung, die davon ausgeht, dass Erkenntnisse sich durchsetzen, nicht so sehr, weil sie wahr, sondern weil sie nutzbar sind. Büßen sie ihre Nutzbarkeit ein, weil ihnen zu viele Phänomene widersprechen, kommt es zu einem Paradigmenwechsel. Dann gilt ein neuer Erkenntnisrahmen. Ein Theoretiker dieser Richtung, der Amerikaner Thomas Samuel Kuhn, hat Kriterien für gute Theorien festgehalten: darunter Akkuratesse, Einfachheit, Fruchtbarkeit.
Politiker, die in diesen Tagen Entscheidungen treffen, müssen irgendwann willkürliche Grenzen ziehen. Sie sollten dabei aber akkurat abwägen, ihre Vorgaben möglichst einfach halten, den Nutzen erklären und vor allem nicht verhehlen, dass ihnen absolute Richtwerte fehlen. Das ist wohl die Voraussetzung dafür, dass wir einander später einmal verzeihen können.