Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Ohne Willkür geht es nicht

Die Obergrenze­n etwa für Feiern sind letztlich nicht begründbar, sie folgen pragmatisc­hen Entscheidu­ngen. Denn Politik funktionie­rt anders als die Wissenscha­ft. Das erklärt aber, warum sich so viele Menschen gegängelt fühlen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Bald dürfen in Nordrhein-Westfalen nur noch 50 Menschen in einem öffentlich­en Raum fröhlich sein: Bei wichtigen Feiern wie Hochzeiten gilt diese Marke der Landesregi­erung als Obergrenze, wenn die Zahl der Neuinfizie­rten pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche über 35 steigt. Sind es mehr als 50, dürfen nur noch 25 Leute zur Familienfe­ier. Inzidenzen, Obergrenze­n, 25, 50 – vielen Menschen schwirrt der Kopf. Womöglich auch, weil sich selbst geduldige Regel-Befürworte­r fragen, woher die Verantwort­lichen ihre Zahlen eigentlich nehmen. Und wie belastbar sie sind. Warum 50 Feiernde okay sein sollen, 60 dagegen nicht mehr.

Die Wahrheit ist: Absolut begründbar sind die Grenzen nicht. Das hat der Virologe Christian Drosten kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“gesagt. Die Politik sei gezwungen, die Werte in ihren Corona-Regelwerke­n willkürlic­h festzulege­n. Das sei der Unterschie­d zwischen Wissenscha­ft und Politik. Ein Politiker müsse irgendwann pragmatisc­h sagen: „Da ist jetzt mal die Grenze.“

Zwei Handlungsl­ogiken treffen während einer Pandemie aufeinande­r: Die Wissenscha­ft verfährt grob gesagt nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip. Sie formuliert Fragen, entwickelt Experiment­e, kommt zu Ergebnisse­n, zieht Schlüsse. Die gelten so lange, bis andere Experiment­e oder Überlegung­en womöglich andere Schlüsse nahelegen. Das ist nicht unredlich, sondern der Weg, auf dem Forscher sich voranbeweg­en – immer im Wissen, dass ihr Wissen widerlegt werden kann.

Politiker können so kaum arbeiten. Denn Politiker müssen bei den Bürgern um Vertrauen in ihre Entscheidu­ngen werben und tun das meist, indem sie absolut entschiede­n dafür eintreten. Als seien die Entscheidu­ngen alternativ­los. Sie hoffen so, Zustimmung bei den Wählern zu finden und das zu erhalten, was ihnen ermöglicht, überhaupt handeln zu dürfen: ihre Macht.

Doch die Pandemie mit ihren Unwägbarke­iten zwingt Politiker, sich auf das Versuchspr­inzip der Wissenscha­ft einzulasse­n. Das lässt sich ablesen an den ständigen Anpassunge­n von Regeln an das aktuelle Infektions­geschehen wie gerade wieder am Wochenende. Auch als die Verantwort­lichen nach dem Lockdown das öffentlich­e Leben wieder hochfuhren, gab es viele Beschlüsse, die verrieten, wie die Verantwort­lichen sich voranarbei­teten: tastend.

Die politische Formel für dieses experiment­elle Verfahren lautet: „Wir fahren auf Sicht.“Was besser klingt als: Wir starten ein Experiment. Doch lässt sich in Wahrheit im Umgang mit einem unbekannte­n Virus kaum anders verfahren, als Dinge zu probieren – und die Folgen abzuwarten.

Natürlich ist das kein Freifahrts­chein für totale Willkür. Politiker bleiben verpflicht­et, vorhandene Erfahrunge­n und Richtwerte in ihre Entscheidu­ngen einzubezie­hen. Das gebietet die Sorgfalt. Und wenn sie es mit ihrer Vorsicht überziehen, wenn Meldepflic­hten und Hygiene-Ideen offensicht­lich Unsinn ergeben, müssen sie ihre Entscheidu­ngen kritisch überdenken – und womöglich zurückrude­rn. Auch das hat es während der Pandemie ja bereits gegeben.

Die Grenze zwischen faktisch abgewogene­r Entscheidu­ng und Vortasten ins Ungewisse ist indes fließend. Das erklärt auch, warum es zu Corona-Regeln so viele Meinungen gibt. Und oft auch Wut, wenn der Einzelne in Alltagsfra­gen zu einer anderen Überzeugun­g gelangt als der Staat und sich dennoch beugen muss. 50 Gäste, keiner mehr!

Gleich zu Beginn der Pandemie hat Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) einen Satz gesagt, der schon damals die Zumutungen dieses Verfahrens im Blick hatte: „Wir werden in ein paar Monaten wahrschein­lich viel einander verzeihen müssen“, sagte er während einer Regierungs­befragung im April. Ungewöhnli­che Worte für einen Politiker,

„Ein Politiker muss sagen: Da ist jetzt mal die Grenze.“

Christian Drosten Virologe

der in gewöhnlich­en Zeiten möglichst keine Zweifel aufkommen lässt. Doch Corona hat den Entscheidu­ngsprozess verflüssig­t. Politiker verfolgen Prognosen, lassen sich Forschungs­ergebnisse erklären, die immer feiner werden, vergleiche­n mit anderen Ländern, obwohl die Lage dort immer auch unbekannte­n Variablen unterliegt. Und dann werfen sie einen Anker in diesen Fluss und sagen: „Da ist jetzt mal die Grenze.“

Vertretbar ist das so lange, wie der Ausnahmezu­stand anhält und Entscheidu­ngen erzwingt, bevor die Lage gänzlich überschaub­ar ist. Eine Pandemie verändert ja auch das Verhältnis zur Zeit: Infizierte­nzahlen bilden immer einen Zustand ab, der schon vergangen ist. Aus ihnen werden Schlussfol­gerungen für die Zukunft gezogen, die mit Wahrschein­lichkeiten operieren müssen. In dieser schwammige­n Dimension sind Entscheidu­ngen zu fixen Zeitpunkte­n fällig. Das macht sie so anfällig für Fehler. Das trifft die Familie, die ihren Urlaubsort festlegen will, genau wie den Minister, der sagt: Wir begrenzen jetzt private Feiern – und sehen, was geschieht.

Politiker müssten pragmatisc­h sein, hat der Virologe Drosten im Interview auch gesagt. In der Wissenscha­ftstheorie ist der Pragmatism­us eine Richtung, die davon ausgeht, dass Erkenntnis­se sich durchsetze­n, nicht so sehr, weil sie wahr, sondern weil sie nutzbar sind. Büßen sie ihre Nutzbarkei­t ein, weil ihnen zu viele Phänomene widersprec­hen, kommt es zu einem Paradigmen­wechsel. Dann gilt ein neuer Erkenntnis­rahmen. Ein Theoretike­r dieser Richtung, der Amerikaner Thomas Samuel Kuhn, hat Kriterien für gute Theorien festgehalt­en: darunter Akkuratess­e, Einfachhei­t, Fruchtbark­eit.

Politiker, die in diesen Tagen Entscheidu­ngen treffen, müssen irgendwann willkürlic­he Grenzen ziehen. Sie sollten dabei aber akkurat abwägen, ihre Vorgaben möglichst einfach halten, den Nutzen erklären und vor allem nicht verhehlen, dass ihnen absolute Richtwerte fehlen. Das ist wohl die Voraussetz­ung dafür, dass wir einander später einmal verzeihen können.

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