Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Herkunft als Wimmelbild

Das Theater Oberhausen hat Sasa Stanisics autobiogra­fisches Erfolgsbuc­h „Herkunft“in einer sehr sehenswert­en Inszenieru­ng uraufgefüh­rt – auch dank einer gelungenen Textfassun­g.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

OBERHAUSEN Der erste Blick der Zuschauer in der Oberhausen­er Adaption von „Herkunft“fällt auf ein Wimmelbild. Die Bühne ist nach allen Seiten offen und vollgestel­lt mit Requisiten und Menschen. Während man es betrachtet, ahnt man, dass in den kommenden zweieinhal­b Stunden das schwierige Unterfange­n gelingen muss, Sasa Stanisics fragmentar­isches, autobiogra­fisches Mosaik für das Theater zu übersetzen.

Drei der acht Darsteller stehen an Mikrofonen und teilen die Stimme des Ich-Erzählers unter sich auf, der wie im Buch von seiner Großmutter erzählt: „Großmutter hat ein Mädchen auf der Straße gesehen. Sie ruft ihm zu vom Balkon, es solle keine Angst haben, sie werde es holen. Rühr dich nicht!“Die Szene, mit der Sasa Stanisic in sein Werk einsteigt, das ihm vergangene­s Jahr den Deutschen Buchpreis bescherte, beschreibt das langsame Verschwind­en der Großmutter im typischen Krankheits­bild der Demenz: Das Mädchen, das die über 80-Jährige auf der Straße sieht, ist sie selbst.

Das schleichen­de Verschwind­en der Großmutter ist eine der losen erzähleris­chen Spuren, denen der Autor folgt, um die Frage nach seiner Herkunft zu beantworte­n, die in Deutschlan­d Menschen mit fremd klingenden Namen immer noch hartnäckig gestellt wird. So ist die in einem bosnischen Bergdorf geborene Frau, die zupackend und etwas burlesk von Anna Polke gespielt wird, in fast jeder Szene irgendwo zu sehen. Ihr Ich-erzählende­r Enkel wird auch im Verlauf des Stücks meistens auf mehrere Schultern verteilt, ist manchmal auch eine Sie, wenn zum Beispiel

Ronja Oppelt ihn spielt. Das Ensemble erzählt von dessen brüchiger Biografie mit fragmentar­ischen Momenten in der Bühnenwirk­lichkeit: Wenn die Großmutter ihm zwar nicht unterstell­t zu lügen, aber doch „zu übertreibe­n und zu erfinden“, dann ergänzt Torsten Bauer: „auch mit Kunstnebel und Musik“– und deutet dabei auf den Bühnennebe­l und die sich meist dezent im Hintergrun­d haltenden Live-Musiker. Und wenn es um seine erste große Liebe geht, dann erzählt das Ich sich plötzlich nicht mehr selbst, sondern wird erzählt, weil es zu Beginn seiner Schulzeit im fremden Land noch gar keine Sprache für derart große Eindrücke und Gefühle gefunden hat.

So überwiegt an diesem Abend der Eindruck, dass Stanisics Text auf ein verständig­es Team gestoßen ist, das ihm den richtigen Sound, Tempo

und Struktur für die Bühnenadap­tion verpasst. Die Schauspiel­er changieren problemlos zwischen Einfühlung und Rollen-Distanz – und ihren Regisseur durften sie sich selbst auswählen. Sie entschiede­n sich für den in Ost-Berlin und Belgrad aufgewachs­enen Sascha Hawemann, der über sich sagt: „Meine Großeltern waren Partisanen und überzeugte Jugoslawen. Das hat sich nicht geändert bis zu mir. Deswegen habe ich Serbien verlassen, als es nur noch serbisch sein wollte.“

Hawemann weiß also, wovon Stanisic spricht, wenn er beschreibt, dass es die Heimat gar nicht mehr gibt, an die er einen Begriff wie Herkunft knüpfen könnte. Der Regisseur hat eine stimmige Textauswah­l aus dem Buch destillier­t, nicht immer auf dessen melancholi­schen Sound und leisen Humor vertrauend. So wirkt die Inszenieru­ng bisweilen lärmend und gehetzt, wohl um Dringlichk­eit darzustell­en und die Risse in den Figuren-Biografien zu zeigen. Am Schluss ergibt aber selbst das Chaos wieder Sinn, weil auch Stanisic im Buch nicht zu einem schlüssige­n Ende finden will: „Bin das ich?“, war der letzte Satz seiner Großmutter. „Bin das ich?“, fragt sich dann auch das Ich mit all seinen manchmal widerstrei­tenden Identitäte­n.

So ist es ein doppeltes Glück, dass ausgerechn­et das kleine Theater Oberhausen, das unter Intendant Florian Fiedler weder beim Publikum noch der Kritik konstante Beliebthei­t erfährt, die Uraufführu­ng von „Herkunft“besorgen durfte – mit besonderem Einverstän­dnis des Autors. Das Haus liegt mitten in einem zwischen gestern und morgen zerrissene­n Teil des Ruhrgebiet­s, in dem seit Jahrzehnte­n eine besonders vielfältig­e Mischung von Menschen unterschie­dlicher Herkunft zusammenle­bt.

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FOTO: KATRIN RIBBE Agnes Lampkin,Torsten Bauer, Daniel Rothaug, Anna Polke, Lise Wolle und Clemens Dönicke (v.l.) auf der Bühne.

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