Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Herkunft als Wimmelbild
Das Theater Oberhausen hat Sasa Stanisics autobiografisches Erfolgsbuch „Herkunft“in einer sehr sehenswerten Inszenierung uraufgeführt – auch dank einer gelungenen Textfassung.
OBERHAUSEN Der erste Blick der Zuschauer in der Oberhausener Adaption von „Herkunft“fällt auf ein Wimmelbild. Die Bühne ist nach allen Seiten offen und vollgestellt mit Requisiten und Menschen. Während man es betrachtet, ahnt man, dass in den kommenden zweieinhalb Stunden das schwierige Unterfangen gelingen muss, Sasa Stanisics fragmentarisches, autobiografisches Mosaik für das Theater zu übersetzen.
Drei der acht Darsteller stehen an Mikrofonen und teilen die Stimme des Ich-Erzählers unter sich auf, der wie im Buch von seiner Großmutter erzählt: „Großmutter hat ein Mädchen auf der Straße gesehen. Sie ruft ihm zu vom Balkon, es solle keine Angst haben, sie werde es holen. Rühr dich nicht!“Die Szene, mit der Sasa Stanisic in sein Werk einsteigt, das ihm vergangenes Jahr den Deutschen Buchpreis bescherte, beschreibt das langsame Verschwinden der Großmutter im typischen Krankheitsbild der Demenz: Das Mädchen, das die über 80-Jährige auf der Straße sieht, ist sie selbst.
Das schleichende Verschwinden der Großmutter ist eine der losen erzählerischen Spuren, denen der Autor folgt, um die Frage nach seiner Herkunft zu beantworten, die in Deutschland Menschen mit fremd klingenden Namen immer noch hartnäckig gestellt wird. So ist die in einem bosnischen Bergdorf geborene Frau, die zupackend und etwas burlesk von Anna Polke gespielt wird, in fast jeder Szene irgendwo zu sehen. Ihr Ich-erzählender Enkel wird auch im Verlauf des Stücks meistens auf mehrere Schultern verteilt, ist manchmal auch eine Sie, wenn zum Beispiel
Ronja Oppelt ihn spielt. Das Ensemble erzählt von dessen brüchiger Biografie mit fragmentarischen Momenten in der Bühnenwirklichkeit: Wenn die Großmutter ihm zwar nicht unterstellt zu lügen, aber doch „zu übertreiben und zu erfinden“, dann ergänzt Torsten Bauer: „auch mit Kunstnebel und Musik“– und deutet dabei auf den Bühnennebel und die sich meist dezent im Hintergrund haltenden Live-Musiker. Und wenn es um seine erste große Liebe geht, dann erzählt das Ich sich plötzlich nicht mehr selbst, sondern wird erzählt, weil es zu Beginn seiner Schulzeit im fremden Land noch gar keine Sprache für derart große Eindrücke und Gefühle gefunden hat.
So überwiegt an diesem Abend der Eindruck, dass Stanisics Text auf ein verständiges Team gestoßen ist, das ihm den richtigen Sound, Tempo
und Struktur für die Bühnenadaption verpasst. Die Schauspieler changieren problemlos zwischen Einfühlung und Rollen-Distanz – und ihren Regisseur durften sie sich selbst auswählen. Sie entschieden sich für den in Ost-Berlin und Belgrad aufgewachsenen Sascha Hawemann, der über sich sagt: „Meine Großeltern waren Partisanen und überzeugte Jugoslawen. Das hat sich nicht geändert bis zu mir. Deswegen habe ich Serbien verlassen, als es nur noch serbisch sein wollte.“
Hawemann weiß also, wovon Stanisic spricht, wenn er beschreibt, dass es die Heimat gar nicht mehr gibt, an die er einen Begriff wie Herkunft knüpfen könnte. Der Regisseur hat eine stimmige Textauswahl aus dem Buch destilliert, nicht immer auf dessen melancholischen Sound und leisen Humor vertrauend. So wirkt die Inszenierung bisweilen lärmend und gehetzt, wohl um Dringlichkeit darzustellen und die Risse in den Figuren-Biografien zu zeigen. Am Schluss ergibt aber selbst das Chaos wieder Sinn, weil auch Stanisic im Buch nicht zu einem schlüssigen Ende finden will: „Bin das ich?“, war der letzte Satz seiner Großmutter. „Bin das ich?“, fragt sich dann auch das Ich mit all seinen manchmal widerstreitenden Identitäten.
So ist es ein doppeltes Glück, dass ausgerechnet das kleine Theater Oberhausen, das unter Intendant Florian Fiedler weder beim Publikum noch der Kritik konstante Beliebtheit erfährt, die Uraufführung von „Herkunft“besorgen durfte – mit besonderem Einverständnis des Autors. Das Haus liegt mitten in einem zwischen gestern und morgen zerrissenen Teil des Ruhrgebiets, in dem seit Jahrzehnten eine besonders vielfältige Mischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenlebt.