Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Warum die Feministin die Gleichberechtigung von Mann und Frau in weiter Ferne sieht.
Deutschlands bekannteste Feministin sieht die Gleichberechtigung der Geschlechter noch in weiter Ferne.
Der Titel „Lebenswerk“hört sich irgendwie final an – wie der publizistische Abschluss eines Wirkens! Das scheint mir aber kaum vorstellbar zu sein.
ALICE SCHWARZER Von final kann nicht die Rede sein! Die nächste Ausgabe der „Emma“ist gerade in Arbeit. Aber ich denke, nach fast einem halben Jahrhundert Engagement und Arbeit kann man schon mal Bilanz ziehen. Im 2011 erschienenen ersten Teil meiner Autobiografie, „Lebenslauf“, ging es ja nur um die Jahre bis 1977. Und um die Frage: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Was waren meine Anfänge? Jetzt – im „Lebenswerk“– geht es vor allem um mein publizistisches und politisches Wirken, von Mitte der 70er-Jahre bis heute. Mit Themen, die ich so manches Mal seit Jahrzehnten behandele, die aber brandaktuell sind, wie der Missbrauch von Kindern, die Sexualgewalt gegen Frauen und mein Leitmotiv: „Die Hälfte der Welt für die Frauen – und die Hälfte des Hauses für die Männer“.
Was war die beste Zeit in Ihrem Leben, das heißt: in Ihrer Arbeit, da ja beides, wie Sie sagen, nicht wirklich voneinander zu trennen ist? SCHWARZER Die beste Zeit ist für mich immer das Jetzt. Ich bin ein Mensch, der sehr stark im Augenblick lebt.
Spielt der Feminismus bei jungen Frauen noch diese Rolle, wie er für Sie bedeutsam war? Anders gefragt: Welche Art vom Feminismus verschafft sich heute Gehör und welchen Beitrag steuerte die Me-Too-Debatte dazu bei? Es scheint, als sei der Feminismus mittlerweile mehr zu einem Generationenkonflikt geworden. SCHWARZER Die jungen Frauen heute sind ja die Enkelinnen der Pionierinnen. Wir, die erste Generation, haben die verschlossenen Türen halb aufgetreten, die zweite Generation ist hinterhergerückt – und die dritte Generation glaubt, die Welt habe den Frauen immer schon offen gestanden. Verständlicherweise. Und das ist auch gut so. Doch wie weit der Weg ist, sehen wir schon an folgendem Beispiel: Im Jahr 1980 hat „Emma“erstmals mit der sexuellen Gewalt im Beruf getitelt, mit Monika Lundi, dem Opfer von Burkhard
Driest – bis zu Me Too sollten dann noch 37 Jahre vergehen. Die Gefahr ist die Illusion junger Frauen, dass die errungenen Rechte garantiert seien. Sind sie aber nicht. Sie sind gerade heute wieder akut gefährdet. Selbst die Kanzlerin warnt ja in Zeiten von Homeoffice vor einer „Retraditionalisierung der Geschlechterrollen“.
Wird der Kampf um Gleichberechtigung jemals ein gutes Ende haben – also schlichtweg überflüssig werden?
SCHWARZER Der Fortschritt fährt ja nie auf der Sechsspurigen. Es geht oft zwei Schritte vor und einen Schritt zurück. Im besten Fall. Und da die Hierarchie zwischen den Geschlechtern das älteste Herrschaftsverhältnis der Menschheit ist, das Fundament, auf dem alle anderen Hierarchien aufbauen, hat die feministische Revolution einfach alles auf den Kopf gestellt. Keine soziale Bewegung hat in den vergangenen Jahrzehnten im Westen unsere Gesellschaft so tiefgründig verändert wie die feministische. Wir leben also in Zeiten des Umbruchs. Die sind spannend, aber auch gefährlich. Die Anspannung steigt. Jedes dritte, vierte Mädchen wird missbraucht, mindestens jede dritte Frau hat Gewalterfahrungen. Und jede zweite Mutter schulpflichtiger Kinder arbeitet Teilzeit und riskiert, in der Altersarmut zu landen. Am Ziel sind wir also noch lange nicht.
Würden Sie Alice Schwarzer als eine auch „öffentliche Frau“bezeichnen, die Auftritte durchaus liebt?
SCHWARZER Ja.
Und Sie geben sich immer energiegeladen; kämpferisch, optimistisch, unerschrocken. „Ich habe mich nie einschüchtern lassen“– schreiben Sie. Gibt es dennoch auch die verzagte Alice Schwarzer, die am liebsten alles oder doch zumindest vieles einfach hinschmeißen möchte? SCHWARZER Verzagt würde ich nicht sagen. Aber es wird mir durchaus manchmal zu viel. Es gibt melancholische Momente. Da gehe ich dann in den Garten oder den Wald.
Sie haben sich alles selbst erkämpft, sagen Sie. Gegen manche Gegnerinnen und Gegner, und oft im Alleingang. Ich habe den Eindruck, dass Sie manchmal ganz gerne auch die „Einzelkämpferin“sind, die zwar die Verantwortung tragen muss, die dafür aber auf Rücksichtnahme nicht angewiesen ist.
SCHWARZER Ich bin schon lange keine Einzelkämpferin mehr. Meine Kolleginnen in „Emma“sind ein solides Team, das mit mir zusammen die Dinge vorantreibt. Teil der Redaktion sind sie seit 35, 26, zwölf, acht oder zwei Jahren. Das ist also eine solide Basis. Aber Sie haben ganz recht: Wenn es sein muss, übernehme ich auch alleine die Verantwortung. Das hat mit meinen im „Lebenslauf“erzählten Prägungen in Kindheit und Jugend zu tun. Und mit meinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Eine wahre Feministin muss unabhängig sein, denn das
Patriarchat ist überall: rechts wie links, draußen wie drinnen.
Wie viel Protestantismus schlummert noch in der gebürtigen Wuppertalerin Alice Schwarzer? SCHWARZER Tja. Sagen Sie’s…
... ich tippe da mal auf eine gute Portion „Arbeitseifrigkeit“. Was würden Sie denn als Ihren größten Erfolg bezeichnen? Was als Ihren größten Fehler?
SCHWARZER Ein Fehler war natürlich, dass ich die Zinsen meines Kontos in der Schweiz nicht versteuert hatte. Mein größter Erfolg ist, dass ich Frauen Mut gemacht habe. Dass sie sehen, dass man unbequem sein, sich wehren und einen aufrechten Gang gehen kann – und das nicht nur überlebt, sondern sogar dieses Leben genießen kann. Denn das tue ich ja. Meine nicht kleinzukriegende Lebenslust halte ich für einen meiner stärksten Charakterzüge.