Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

So unterschie­dlich reden die Experten in der Corona-Krise.

Die Debatte in der Corona-Pandemie bestimmt auch das Vokabular von Christian Drosten und Hendrik Streeck. Donald Trump und Michael Wendler feuern mit.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Es ist ein unerwartet poetisches, zugleich heimtückis­ch zutreffend­es Wort in die Corona-Debatte eingezogen. Es entsprang einem pointierte­n Satz des Virologen Christian Drosten. Dieser Tage sagte er, es gebe „Irrlichter“in der öffentlich­en Informatio­n.

Irrlichter sind optische Täuschunge­n, Fake News der Sehkraft, geistige Fehlannahm­en, die – wenn überhaupt – in Sümpfen, Mooren, Morasten, Wäldern und auf Friedhöfen gesichtet werden. Manche glauben, Faulgase seien die Ursache. Jedenfalls sind Irrlichter entbehrlic­h. In Goethes „Faust“gehen sie sogar dem Mephisto auf die Nerven.

Drosten meint mit Irrlichter­n erstens bewusste Fehlinform­ationen etwa zur angebliche­n Vielzahl falsch-positiver PCR-Tests oder zur angebliche­n Harmlosigk­eit des Virus. Er meint gewiss aber auch Personen wie den Corona-Prüfexpert­en Donald Trump („Das China-Virus wird besiegt“), den Corona-Barden Michael Wendler („angebliche Pandemie“) und den Corona-Rhetoriker Wolfgang Wodarg. Dessen Verschwöru­ngs-Website enthält so viele Schreib- und Interpunkt­ionsfehler, dass man auch seine Kompetenz bei den Grundreche­narten, die seinen Berechnung­en zugrunde liegen, bezweifeln darf.

Irrlichter halten sich manchmal so lange wie Glühwürmch­en, nämlich nur ein paar Tage, manche so lange wie – sagen wir: Küchenscha­ben, nämlich sechs Monate. Wenn menschlich­e Irrlichter sich in die Welt der Epidemiolo­gie verirren und Statistike­n zu lesen versuchen, wird das Licht trüb, was die korrekte Interpreta­tion der Corona-Tabellen des Robert-Koch-Instituts stört. Die werden notorisch fehlinterp­retiert. Richtig ist beispielsw­eise: Es wird nicht mehr getestet als noch vor fünf, sechs Wochen, trotzdem haben sich die Positiv-Fallzahlen in diesem Zeitraum verdoppelt.

In diesem Jahr haben wir ein exponentie­lles Wachstum an öffentlich mobilen Virologen erlebt, doch sind nur die wenigsten, was Sars-CoV-2 betrifft, wirklich vom Fach. Es ist ja ein Unterschie­d, ob sich jemand auf Coronavire­n spezialisi­ert hat (wie Drosten, der auch das Corona-Konsiliarl­abor der Charité leitet) oder immerhin auf klinisch-diagnostis­che Virologie (wie die Virologie der Uniklinik Düsseldorf) oder ob jemand vorrangig zu den Grundlagen der HIV-Immunologi­e geforscht hat und bei Corona eher Novize ist (wie Hendrik

Streeck). Trotzdem sind alle dieser Tage stark gefragt. Und sie sind unter Beschuss einiger Kritiker.

Manchem Virologen wird vorgeworfe­n, er sorge für Panik. Dieser Vorwurf trifft beim Robert-Koch-Institut ins Leere. Die Experten dort arbeiten geradezu beamtenhaf­t leise und unauffälli­g, gleichwohl überblicke­n sie die Lage besser als jeder andere. Sie sagen: Das Virus ist gefährlich, doch die kollektive Einhaltung aller Abstands-, Masken-, Hygieneund Lüftungsre­geln kann helfen, dass es weniger Infektione­n gibt.

Jörg Timm, Virologe am Universitä­tsklinikum Düsseldorf, schätzt das RKI ähnlich ein: „Die arbeiten sehr ruhig. Natürlich legen sie Zahlen und Fakten vor, aber doch ohne großes Kino.“

Fraglos, so Timm, sei der alleinige Blick auf die Zahlen verzerrend. Denn im Sommer und Frühherbst wurde und wird mehr getestet als im Frühjahr. Dennoch gebe es derzeit eine steil ansteigend­e Kurve, und die könne man nicht ignorieren. Die Zahl der Intensiv-Fälle in den deutschen Kliniken steigt derzeit jedenfalls wieder deutlich, und zwar nicht nur mit sehr alten Menschen.

Sein Charité-Kollege Drosten wird in der Öffentlich­keit besonders angegiftet, das liegt auch an seiner Unsichtbar­keit. Er ist nicht dauerhaft im Fernsehen präsent wie TVStar

Streeck, sondern auf ruhigeren Kanälen unterwegs und um Nachhaltig­keit bemüht. Momentan befindet sich Drosten, wie er sagt, in einer Phase „gespannter Aufmerksam­keit“. Er hofft, dass ein weiterer Lockdown vermieden werden könne, spricht von kürzeren Quarantäne­zeiten und modifizier­ten Teststrate­gien. Zugleich weist er darauf hin, dass anderswo in Europa die Intensivst­ationen „schon wieder voll sind, etwa in Südfrankre­ich oder in Madrid“.

Drosten bekräftigt dabei seine Einschätzu­ng einer in Deutschlan­d wegen des hohen Alters der Bevölkerun­g höheren Sterblichk­eit durch das Coronaviru­s. Die Infektions­sterblichk­eit liege bei „einem Prozent oder etwas mehr“in Deutschlan­d; das wäre, sagt Drosten, eine etwa 20-mal höhere Sterblichk­eit als bei der Grippe.

Was die Zahlenkolo­nnen der Testergebn­isse betrifft, die ja tatsächlic­h kein Indikator an sich sind, wenn man sie nicht qualifizie­rt analysiert, denkt Drosten umsichtig: „Man könnte nicht nur die Infizierte­n zählen, sondern gesondert auch die Infizierte­n über 50 Jahre. Anhand dieser Zahl könnte man gut prognostiz­ieren, mit wie viel schweren Verläufen man demnächst rechnen muss.“Übrigens ist Drostens Prognose vom Juni in Erfüllung gegangen: Das Virus hat sich in die gesamte geografisc­he Breite der Bevölkerun­g eingeschli­chen; es gibt keine vereinzelt­en lokalen Hotspots mehr.

Während Drosten Aufmerksam­keit lehrt, aber auch Besonnenhe­it, ist Hendrik Streeck derzeit vor allem auf Entwarnung geeicht. Kaum noch spricht er von Wachsamkei­t. Streeck sagt vielmehr: „Ich möchte helfen, eine neue Normalität zu erreichen, indem wir weg von einer Verbots- hin zu einer Gebotskult­ur kommen.“Aus einer Gefahr von damals sei lediglich ein Risiko geworden, „das statistisc­h gesehen für den Einzelnen recht gering ist“. Streecks Mantra in diesen Tagen: „Es gibt zu viel Angst.“Und wenn er manche reden höre, klinge es fast wie „Apokalypse“. Er plädiert für Schwellenw­erte und ein Ampelsyste­m, das sich auch an der Auslastung der Intensivbe­tten orientiert.

Manche glauben, dass Streeck in diesen Tagen mit seiner medialen Allgegenwa­rt dermaßen beschäftig­t sei, dass er zum ruhigen Nachdenken nicht mehr komme. In der Tat: Man kann die Sirenen nicht erst erklingen lassen, wenn es mit den Betten knapper wird. Die zugehörige­n Corona-Infektione­n haben ja bereits Wochen vorher stattgefun­den. Die nackten Bettenzahl­en sind sowieso kein Wert an sich. Charité-Manager Ulrich Frei sagt, es gebe „einen absoluten Mangel an Intensivpf­legekräfte­n schon seit langer Zeit“. Intensivbe­tten seien genügend vorhanden, nicht aber das Personal dazu. Ohne Personal seien die vorhandene­n Betten aber nicht betriebsfä­hig.

Drosten spricht nicht vom Einzelnen und seinem persönlich­en Risiko, sondern von der Aufgabe der Gesellscha­ft, die sich auf den Kodex verständig­en müsse, „dass wir alle die Lage ernst nehmen, während wir versuchen, einen normalen Alltag zu haben. Wir müssen alle dafür ein Augenmaß entwickeln.“Wir wiederhole­n, damit niemand es überliest: Auch Drosten hält einen „normalen Alltag“für möglich, wenn sich alle vernünftig verhalten.

Gibt es eigentlich noch Alexander Kekulé? Ja, der kluge und zuweilen etwas lärmende Mann des Widerspruc­hs hält weiterhin seinen MDR-Podcast zu Corona ab. Dieser Tage schaute er nach Frankreich und Spanien, sorgte sich sehr und blickte dann zurück auf Deutschlan­d: „Wenn das hier komplett aus dem Ruder gerät, haben wir natürlich keine andere Möglichkei­t als einen Lockdown. Oder wir schauen einfach zu, wie die Leute infiziert werden. Aber ich glaube nicht, dass das politisch akzeptiert wird.“

 ?? FOTOS: DPA (4), ISTOCK / MONTAGE: MARTIN FERL ?? Corona-Experten mit aufsteigen­der Kompetenz (v.l.): Donald Trump, Michael Wendler, Hendrik Streeck, Christian Drosten.
FOTOS: DPA (4), ISTOCK / MONTAGE: MARTIN FERL Corona-Experten mit aufsteigen­der Kompetenz (v.l.): Donald Trump, Michael Wendler, Hendrik Streeck, Christian Drosten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany