Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Staat gegen die Mafia
2018 nehmen Ermittler in NRW einen Kokain-Ring der italienischen ’Ndrangheta hoch. Am Montag startete der Prozess in Düsseldorf – und wurde wegen Corona vertagt.
DÜSSELDORF Ein Mittwoch in der Weihnachtszeit, zu früh und vor allem viel zu kalt ist es für einen Becher Eis, doch in der Fußgängerzone in Duisburg haben sich die Menschen vor einer italienischen Eisdiele versammelt. Ein paar gehen rein, doch sie wollen kein Eis. Sie tragen Uniform, Sturmhaube und haben schwere Waffen geschultert. Es sind Polizisten, und am 5. Dezember 2018, da stellen sie den gesamten Laden auf den Kopf. Noch bevor viele Geschäfte rund um das City-Palais öffnen, ist der Einsatz vorbei. Die Beamten nehmen Geld mit, eine vierstellige Summe. Und sie nehmen einen ’Ndrinu mit, ein mutmaßliches Mitglied der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia. Es ist der Chef des Eiscafés.
Montag, 11. Oktober, zwei Jahre später. Der Mann sitzt in Saal 1 des Hochsicherheitstrakts des Oberlandesgerichts Düsseldorf, doch eine Anklage hört er heute nicht. Der Prozessauftakt gegen insgesamt 14 Personen aus dem Mafia-Milieu ist geplatzt, die Mutter eines Angeklagten – der nicht in Untersuchungshaft sitzt – hat sich mit dem Coronavirus infiziert. Er hatte die Seniorin am Wochenende in Köln besucht, ein Corona-Test bei ihm steht noch aus. Die Kammer muss vertagen, frühestens am Freitag soll es weitergehen. Zumindest, wenn der Angeklagte gesund ist.
Eigentlich führt das Landgericht Duisburg den Prozess, doch aus Sicherheitsgründen findet er in der Landeshauptstadt statt. Eine Vorsichtsmaßnahme, wie die Staatsanwaltschaft Duisburg mitteilte. Zusammen mit 13 weiteren Männern ist der Besitzer des Eiscafés angeklagt, es geht unter anderem um Geldwäsche, Steuerhinterziehung, Betrug und mehr als 40 weitere Delikte. Im Zentrum steht aber der Handel mit mehr als 600 Kilo Kokain. Fünf der Männer sollen Mitglieder der Mafia sein, die anderen der ’Ndrangheta bei ihren Aktivitäten geholfen haben.
An jenem Morgen im Winter 2018 schlagen die Ermittler in ganz Europa zu. Sie durchsuchen eine Pizzeria in Pulheim, Gebäude in Solingen und Grevenbroich, eine Eisdiele in Viersen, Objekte in Belgien, den Niederlanden und Italien. Die Operation „Pollino“, benannt nach einem Nationalpark in Italien, war der größte Einsatz gegen die ’Ndrangheta, den es jemals in Europa gab. Beteiligt waren die Strafverfolgungsbehörden Eurojust und Europol, das Landes- und Bundeskriminalamt sowie die Spezialkräfte der GSG9. Insgesamt 84 Verdächtige wurden in Europa festgenommen, daneben stellten die Ermittler mehrere Millionen Euro und kiloweise Kokain sicher. Ein Gastwirt aus Pulheim soll der Haupttäter sein.
Dem Zugriff voraus gingen monatelange Ermittlungen. Die ’Ndrangheta gilt als mächtigste kriminelle Organisation des Kontinents, doch die Machenschaften der Mafia hinterlassen kaum Spuren. Anders als etwa bei arabischen Clans protzen die Mitglieder der ’Ndrangheta nicht mit Straftaten. Es gibt keine öffentlichen Machtdemonstrationen, die kriminellen Taten, meist Drogenhandel, verursachen kaum Aufsehen. Die Mafia arbeitet im Verborgenen. Doch die Operation „Pollino“offenbart: Nordrhein-Westfalen ist einer der wichtigsten Stützpunkte der ’Ndrangheta außerhalb der Gegend um Kalabrien.
Bereits 2014 werden die Ermittler aus den Niederlanden misstrauisch. In der Grenzregion zu Deutschland stellen sie fest, dass dort auffällig viele neue Restaurants und Cafés eröffnet werden. Später stellt sich heraus, dass einige der Läden wohl Teil eines riesigen Kokain-Netzwerks
waren. Zwischen den getarnten Verstecken werden Drogen transportiert, etwa in doppelten Böden von Kurierfahrzeugen. Die Beamten observieren mehrere Objekte und schleusen einen verdeckten Ermittler, Codename „Kara“, ein.
Den endgültigen Beweis für den Drogenhandel liefern die deutschen Ermittler durch den Fund von Kokain
„Wenn wir glauben, wir haben die ’Ndrangheta ausgehoben, dann täuschen wir uns.“
Fedirico Cafiero de Raho Italienischer Staatsanwalt
in einem präparierten Pferdetransporter. Das Fahrzeug wird 2016 im britischen Fährhafen Harwich sichergestellt. Zuvor wurde das Kokain in Containern von Südamerika in europäische Häfen verschifft und dann in kleineren Mengen von zehn bis 20 Kilo nach Deutschland und Italien geschafft.
Auch „Kara“kommt dem Kokain auf die Spur. Laut Medienberichten
gewinnt er das Vertrauen der Mafiosi, doch irgendwann bietet die ’Ndrangheta ihm einen Deal an, den er nicht annehmen kann. Er soll mehrere Hundert Kilo Kokain kaufen. Die Ermittler wollen darauf nicht eingehen. Der Preis für ein Gramm Koks liegt bei rund 70 Euro. Die Sache wird nicht nur zu teuer, sondern auch zu gefährlich. „Kara“droht aufzufliegen und wird schließlich abgezogen. Die Ermittler taufen den Drogenring auf den Namen „Mafia & Co. KG“.
Ob die Angeklagten der ’Ndrangheta aussagen werden, ist fraglich. In der Mafia gilt die Omertà, eine Art Schweigepflicht, der sich die Mitglieder verschrieben haben. Hoffnung könnte dagegen auf den neun Angeklagten liegen, die nicht Mitglied der ’Ndrangheta sind. Von ihnen erwartet der Kodex zwar auch Schweigen, doch bei der Polizei sollen einige bereits eine Aussage gemacht haben. Die Männer kommen unter anderem aus Duisburg, Mönchengladbach, Düsseldorf, Köln, Solingen, Grevenbroich, Wesseling und Neuss.
Die ’Ndrangheta gilt als die einflussreichste aller italienischen Mafia-Organisationen. Sie dominiert den Drogenschmuggel nach Europa, ist aber auch an Rhein und Ruhr aktiv. So gehen die Mafia-Morde von Duisburg im Jahr 2007 auf ihr Konto. Damals waren vor einer Pizzeria sechs Menschen erschossen worden. Experten schätzen, dass die ’Ndrangheta jährlich einen weltweiten Umsatz zwischen 50 und 100 Milliarden Euro macht. Nach Angaben der US-Bundespolizei FBI hat sie 6000 Mitglieder.
Die Ermittlungsakten in dem Fall füllen 57 Umzugskartons, die Anklageschrift umfasst 649 Seiten. Für das Mammut-Verfahren sind 90 Verhandlungstage bis Ende kommenden Jahres angesetzt. Ob der Prozess der Mafia das Handwerk legen wird, ist zweifelhaft. Daran glaubt auch Italiens Anti-Mafia-Staatsanwalt Fedirico Cafiero de Raho nicht. Er sagte im Dezember 2018, kurz nach der Operation „Pollino“: „Wenn wir glauben, wir haben die ’Ndrangheta ausgehoben, dann täuschen wir uns.“(mit dpa)