Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Fehler von Ischgl
Ein Bericht wirft Politikern und Behörden in Tirol Überforderung und Beschönigung im Umgang mit Corona vor.
INNSBRUCK Noch Mitte März, als erste Berichte in internationalen Medien auftauchten, wonach sich heimgekehrte Skiurlauber aus Island und Skandinavien in Ischgl mit dem Coronavirus angesteckt hätten, behauptete der Tiroler Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg standhaft: Landesregierung und Tiroler Behörden hätten „alles richtig gemacht“. Das hat nun die Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs, Ronald Rohrer, eindeutig als falsch widerlegt.
Gestern präsentierten die Ermittler in Innsbruck einen 300-Seiten-Bericht zur Affäre Ischgl, den Extrakt aus nahezu 6000 Seiten Unterlagen. Während des Sommers waren 53 Personen befragt worden – darunter infizierte Urlaubsgäste, Hoteliers, Politiker (einschließlich des Tiroler Landeshauptmanns Günther Platter), Beamte und Vertreter der Tourismuswirtschaft.
In erster Linie zielt der Rohrer-Report auf Autoritäten der Gemeindeund Bezirksebene. Darin heißt es, von Beginn an habe die zuständige Bezirkshauptmannschaft Landeck den Infektionsverlauf „aus epidemiologischer Sicht“falsch eingeschätzt: Man hätte bereits am 9. und nicht erst am 12. März eine Verordnung erlassen müssen, die Nachtlokale zu schließen, den Seilbahn- und Skiliftbetrieb einzustellen sowie ein Versammlungsverbot zu verhängen. Die Verbreitung von Infektionen hätte vermieden werden können. Der Ischgler Bürgermeister Werner Kurz wird kritisiert, die Einstellung des Pistenbetriebs erst am 14. März verkündet zu haben, anstatt, wie gesetzlich vorgeschrieben, unverzüglich. Die Skisaison in ganz Tirol mit dem 15. März zu beenden, sei hingegen richtig gewesen, so der Untersuchungsbericht.
Gegen Bürgermeister Kurz, den Landecker Bezirkshauptmann Markus Maaß sowie zwei weitere Behördenvertreter ermittelt bereits die Staatsanwaltschaft wegen „Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten“. Der Bürgermeister beruft sich auf die Bezirkshauptmannschaft, diese wiederum auf den Tiroler Regierungschef Platter, der die Liftsperre für den 14. März angekündigt habe. Auch der österrreichische Bundeskanzler
Sebastian Kurz kommt in dem Rohrer-Bericht nicht gut weg. Dessen „missverständliche Ankündigung“am 13. März, Ischgl und das Paznauntal unter eine 14-Tage-Quarantäne zu stellen, sei „ohne direkte Zuständigkeit und ohne substanzielle Vorbereitung“erfolgt. Das habe dann zu einer panikartigen Abreise der Gäste und zu „chaotischen Zuständen
geführt“. Allerdings, so der Kommissionsvorsitzende Rohrer, habe er keine Kompetenz, das Verhalten von Kurz zu untersuchen. Die Tiroler Behörden behaupten, sie seien selbst von der Quarantäne-Ankündigung des Kanzlers überrascht worden.
Österreichische Medien hatten am Wochenende aus Unterlagen der Staatsanwaltschaft zitiert, aus denen hervorgeht, dass der Tiroler Landessanitätsrat früher als zugegeben, bereits am 8. April, von der Virusverbreitung in der Ischgler Après-Ski-Bar „Kitzloch“gewusst habe. Am gleichen Tag behauptete die Landesregierung in einer Stellungnahme, dass eine Übertragung auf Gäste „eher unwahrscheinlich“sei und die Urlauber sich eher im Flugzeug nach Hause angesteckt hätten. Später wehrte sich Landeshauptmann Platter gegen den Vorwurf, entgegen der Faktenlage „in der Öffentlichkeit ein anderes Bild gezeichnet“zu haben.
Der Untersuchungsreport räumt ein, dass Politiker und Behörden in Tirol „in einer außergewöhnlichen Krisensituation“unter starkem Druck gestanden hätten. Doch kritische Beobachter und die Tiroler Opposition werfen Politik und Tourismus vor, aus wirtschaftlichen Gründen „die Virusausbreitung bewusst beschönigt und heruntergespielt“zu haben, so Douglas Hoyos, der Justizsprecher der wirtschaftsliberalen Partei Neos. Ob die Tiroler Landesregierung doch noch zu kritischer Selbstreflexion fähig ist, wird sich am Mittwoch zeigen, wenn sich der Innsbrucker Landtag mit dem Ischgl-Report beschäftigt.