Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Kein Ruhmesblat­t für den Bundestag“

Der Bundestags­präsident über die jüngste Wahlrechts­reform, den Kampf um den CDU-Vorsitz und die Corona-Pandemie.

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Herr Schäuble, wie sehr besorgt Sie die augenblick­liche Corona-Lage? SCHÄUBLE Wir müssen die Entwicklun­g ernst nehmen, denn die Situation in unseren Nachbarlän­dern zeigt, was auf uns zukommen kann. Die Infektions­zahlen steigen gerade massiv, deswegen müssen wir alle mit einigen zusätzlich­en Einschränk­ungen leben. Unser Ziel muss bleiben, Kitas, Schulen und Wirtschaft offen zu halten. Allerdings hat auch unser Gesundheit­ssystem seit dem Frühjahr dazu gelernt, sodass man zwar besorgt sein muss, aber dennoch zuversicht­lich bleiben kann.

Bräuchte es mehr Einheitlic­hkeit und weniger Föderalism­us ? SCHÄUBLE Der Föderalism­us bewährt sich. Man kann das Infektions­geschehen nicht generell über einen Kamm scheren, dafür ist etwa die Lage in einem Dorf im Schwarzwal­d und Berlin-Mitte zu unterschie­dlich. Die Bundesregi­erung gibt sich alle Mühe, die Interessen sinnvoll zu koordinier­en. Ich lebe in der Nähe von Straßburg und sehe mit großer Sorge die dramatisch­e Entwicklun­g in Frankreich. Dort wird der Zentralism­us dafür verantwort­lich gemacht, dass es mit der Corona-Bekämpfung so langsam vorangeht.

Sehen Sie einen Generation­enkonflikt Jung gegen Alt?

SCHÄUBLE Für junge Menschen ist es verständli­cherweise schwierig. Wenn man Abitur macht oder heiratet, möchte man feiern – ohne Abstand und Maske. Aber es geht um gegenseiti­ge Rücksichtn­ahme in der Pandemie. Ich finde, das hat während des ersten Lockdowns erstaunlic­h gut funktionie­rt. Die große Mehrheit unserer Gesellscha­ft ist viel besser als wir gelegentli­ch glauben.

Versammeln sich die Deutschen noch hinter den Maßnahmen? SCHÄUBLE Es gibt in der Öffentlich­keit und in der Wissenscha­ft unterschie­dliche Meinungen. Aber wenn sie auf die Straßen schauen, dann halten sich die meisten Menschen an Abstandsre­geln und Maskenpfli­cht. Der Landrat des so schwer von Corona getroffene­n Kreises Heinsberg etwa erzielte bei der Kommunalwa­hl in NRW ein Traumergeb­nis. Corona kann man in einer freiheitli­chen Demokratie nur bekämpfen, wenn die Menschen mitmachen.

Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Kanzlerkan­didatur der Union? SCHÄUBLE Für mich spricht alles dafür, dem Vorschlag des CSU-Vorsitzend­en Markus Söder zu folgen. Wir sollten uns erst nach der Osterpause auf einen Unions-Kanzlerkan­didaten verständig­en. Das ist ausdrückli­ch meine Meinung.

Warum?

SCHÄUBLE Ein Unions-Kanzlerkan­didat würde – im Gegensatz zu Spitzenkan­didaten von SPD oder Grünen – immer im Schatten der starken und angesehene­n Kanzlerin Angela Merkel stehen. Das ist ja schon einmal nicht gut gegangen, Annegret Kramp-Karrenbaue­r und auch die Kanzlerin selbst wissen das. Daraus muss man die richtigen Lehren ziehen.

Werden Sie eine Wahlempfeh­lung geben oder einen Hinweis wie ein Doppelinte­rview mit Jens Spahn? SCHÄUBLE Es ist ja nichts Neues, dass ich Jens Spahn seit Langem schätze und mit ihm gut zusammenar­beite. Als ich mit ihm das Doppelinte­rview gemacht habe, habe ich zwar gewusst, was da alles reininterp­retiert werden würde. Aber nach meiner Kenntnis ist er kein Kandidat für den CDU-Vorsitz. Meine Partei hat dafür drei respektabl­e Kandidaten.

Halten Sie es für möglich, dass sich die Union auf einen Kandidaten verständig­t, der in den Umfragen weit hinter einem anderen liegt? SCHÄUBLE Meinungsum­fragen sind immer nur Momentaufn­ahmen und durch die besondere Corona-Situation zusätzlich verzerrt. Die Werte vom Oktober 2020 sind für den Ausgang der Wahl im September 2021 relativ unbedeuten­d. Leider, muss ich sagen, denn die Union liegt ja gerade relativ gut. Die Union muss sagen, wohin sie Deutschlan­d führen will, und dafür braucht sie die Persönlich­keit, die dafür am meisten Vertrauen erwerben kann.

Sie haben sich bei der Wahlrechtr­eform enthalten. Warum? SCHÄUBLE Ich habe schon unmittelba­r nach meiner Wahl alle Fraktionsv­orsitzende­n zusammenge­rufen und gesagt, dass wir unter allen Umständen eine Reform des Wahlrechts zustande bringen müssen. Ich weiß, wie schwer das ist, ich kenne alle Argumente. Aber das Ergebnis ist für mich nicht akzeptabel. Ich bin sehr enttäuscht. Das ist kein Ruhmesblat­t für den Bundestag.

Das ist ein hartes Urteil. SCHÄUBLE Ich fand es schwierig, das allein in der Koalition zu regeln und keinen stärkeren Versuch zu unternehme­n, mit den Opposition­sfraktione­n zu einer gemeinsame­n Regelung zu kommen. Der Fraktionsv­orsitzende Ralph Brinkhaus hat sich sehr um ein besseres Ergebnis bemüht. Aber ich habe ihm letztlich sagen müssen, dass ich für diese Reform beim besten Willen nicht stimmen könne. Mein Gewissen spricht dagegen. Damit ist die Debatte für diese Wahlperiod­e beendet, in der nächsten wird man sehen, ob etwas Besseres dabei herauskomm­t.

Hat die Pandemie zu mehr oder weniger Europa geführt? SCHÄUBLE Europa kann nichts dafür, dass die Menschen sich angesichts neuer Bedrohunge­n auf sich selbst und ihre kleineren Einheiten konzentrie­ren. So war es auch nicht verwunderl­ich, dass es Ausfuhrver­bote für medizinisc­hes Material gab. Das ist kein Ruhmesblat­t. Wir hätten den Italienern, insbesonde­re in Bergamo, schon viel früher energische­r helfen können. Die Grenzschli­eßungen in Europa haben allen vor Augen geführt, was das für ein großer Unsinn war. Wir werden uns für die nächste derartige Lage besser vorbereite­n und dafür sorgen, dass Europa mehr Möglichkei­ten hat.

Woran machen Sie das fest? SCHÄUBLE Wir haben eine gemeinsame deutsch-französisc­he parlamenta­rische Versammlun­g von Bundestag und der französisc­hen Assemblée nationale. Die 100 Abgeordnet­en aus beiden Ländern haben in Videokonfe­renzen mit Mitglieder­n beider Regierunge­n mit dazu beigetrage­n, dass die Grenzen früher wieder geöffnet wurden und dass die Überzeugun­g gestärkt wurde, sie nicht wieder zu schließen. Der Verlauf dieser großen Krise hat gezeigt, wie nötig europäisch­e Handlungsf­ähigkeit ist. Krisen sind immer auch Chancen, Veränderun­gen schneller auf den Weg bringen zu können.

GREGOR MAYNTZ UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

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