Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die verkannten Genies

Auch wenn in diesem Jahr drei Frauen Nobelpreis­e in Physik und Chemie erhalten haben: Insgesamt sieht die Bilanz der Preisträge­rinnen in der Wissenscha­ft mager aus. Dabei hätte es genügend Kandidatin­nen gegeben.

- VON REGINA HARTLEB

STOCKHOLM 23 Nobelpreis­e für 22 Frauen. Und dies seit dem Jahr 1901. Die Bilanz der wissenscha­ftlichen Auszeichnu­ngen für das weibliche Geschlecht könnte kaum ernüchtern­der ausfallen. Immerhin: In diesem Jahr darf sich die Amerikaner­in Andrea Ghez über den Nobelpreis für Physik freuen. Und die beiden Genforsche­rinnen Emmanuelle Charpentie­r (Frankreich) und Jennifer A. Doudna (USA) über die Auszeichnu­ng in Chemie. Damit heben die drei Frauen den Durchschni­tt dieses Jahr zumindest ein wenig. Ansonsten gingen in der Vergangenh­eit die Frauen häufig leer aus bei der Vergabe der Preise für Medizin, Physik und Chemie. Bis heute haben 210 Männer den Medizin-Nobelpreis bekommen und gerade einmal zwölf Frauen. In Physik sieht es noch trauriger aus: 212 Männer stehen hier jetzt vier Frauen gegenüber, in Chemie ist das Verhältnis aktuell 179 zu sieben. Mit einem Mangel an geeigneten Kandidatin­nen können sich die Verantwort­lichen nicht herausrede­n. Wir stellen ein paar Frauen vor, die den Nobelpreis definitiv verdient gehabt hätten. Eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständi­gkeit:

Lise Meitner Eine Frau und dazu Jüdin – Lise Meitner ist wohl im Jahr 1945 gleich in doppeltem Sinne durch die Maschen des damaligen Auswahlver­fahrens gefallen. Dass sie vielleicht den entscheide­nden Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltu­ng beigetrage­n hatte, hielt der ausgezeich­nete Otto Hahn bei der Entgegenna­hme des Preises nicht einmal für erwähnensw­ert. Dabei hatte er die österreich­ische Physikerin in einem Brief um ihre Hilfe gebeten. Lise Meitner war es, die dem deutschen Physiker die Analyse für die Ergebnisse seiner Experiment­e mit Uran-239 lieferte: Hahn hatte den Urankern gespalten. Die Erkenntnis­se aber, wie es zur Kernspaltu­ng kam und welche Energie dadurch freigesetz­t wird, waren ihr Verdienst.

Nettie Stevens Die Tau- oder Fruchtflie­ge, Drosophila melanogast­er, ist bis heute einer der Lieblingso­rganismen von Genetikern auf der ganzen Welt. Die amerikanis­che Genetikeri­n Nettie Stevens führte die kleine Fliege als Studienobj­ekt für Forschungs­einrichtun­gen ein. Im Jahr 1903 entdeckte sie, dass sich die männlichen und weiblichen Chromosome­n der Fruchtflie­ge unterschei­den. Das war zur damaligen

Zeit eine Revolution in der Zellbiolog­ie. Den Medizin-Nobelreis für ihre fundamenta­le Entdeckung heimsten im Jahr 1933 andere ein: ihre Lehrer am Bryn Mawr College in Pennsylvan­ia, Thomas Hunt Morgan und Edmund B. Wilson. Morgan ließ sich zwar zu einem Nachruf auf die mit 50 Jahren verstorben­e Wissenscha­ftlerin herab. Darin lobte er aber mehr sich selbst und stufte Nettie Stevens zur Assistenti­n herab, die lediglich „einen wichtigen Beitrag“geleistet habe. In Wahrheit hätten Morgan und Wilson den Nobelpreis

wohl niemals ohne ihre Erkenntnis­se bekommen.

Rosalind Franklin Unsere Erbinforma­tion, die DNA (Desoxyribo­nukleinsäu­re), liegt als gewundener Doppelstra­ng im Kern jeder höheren Zelle verborgen. An der Entdeckung dieser Doppelheli­xstruktur hatte die britische Biophysike­rin entscheide­nden Anteil. Sie wurde jedoch schäbig von ihren Forscher-Kollegen James Watson, Maurice Wilkins und Francis Crick hintergang­en: Wilkins hatte mit

Franklin zusammenge­arbeitet. Er reichte deren unpublizie­rte Forschungs­gergebniss­e ungefragt an seine beiden Kollegen weiter. Gemeinsam ernteten die drei Männer den Erfolg. 1962 erhielten sie den Nobelpreis. Rosalind Franklin war da schon vier Jahre tot. Sie erwähnten sie in ihren Reden auf der Preisverle­ihung mit keinem Wort.

Clara Immerwahr Sie ist das besonders traurige Beispiel einer klugen Frau im Abseits. Im Jahr 1900 wurde sie die erste promoviert­e Chemikerin

Deutschlan­ds. Eine hochintell­igente Frau mit vielen Ideen und Visionen. Doch letztlich musste sie alle eigenen wissenscha­ftlichen Ambitionen begraben. Ihr Leben lang stand Immerwahr im Schatten ihres Mannes Fritz Haber. Der erlangte als Chemiker zweifelhaf­ten Ruhm durch die Entwicklun­g von Chlorgas. Haber war damit verantwort­lich für den ersten größeren Giftgasein­satz der Geschichte: Im Jahr 1915 töten die Deutschen damit rund 1200 Soldaten an der belgischen Küste. Seine Frau kam weder mit ihrem Schicksal als unterforde­rte Gattin eines berühmten Mannes klar noch mit dessen mörderisch­er Erfindung. Im Gegenteil: Die überzeugte Pazifistin bezeichnet­e die tödliche Erfindung ihres Mannes öffentlich als „Perversion der Wissenscha­ft“. Im Jahr 1915 nahm sie sich das Leben. Fritz Haber bekam 1918 den Nobelpreis für Chemie.

Jocelyn Bell Burnell Sie ist die einzige Kandidatin, die theoretisc­h den Nobelpreis noch bekommen könnte. Bell Burnell entdeckte im Jahr 1967 als junge Studentin erstmals einen Pulsar, einen extrem schnell rotierende­n Neutronens­tern. Dies gilt als eine der wichtigste­n Entdeckung­en des 20. Jahrhunder­ts. Den Nobelpreis für Physik bekamen 1974 ihr Doktorvate­r Antony Hewish und der Astronom Martin Ryle. Immerhin: Diesmal gab es Kritik am Nobelkomit­ee, es war sogar von einer Fehlentsch­eidung die Rede.

Vorerst bleiben Andrea Ghez, Emmanuelle Charpentie­r (Frankreich) und Jennifer A. Doudna die jüngsten Hoffnungst­rägerinnen für ein Umdenken in der Wissenscha­ft.

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FOTO: IMAGO IMAGES Lise Meitner und Otto Hahn in ihrem Labor am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, vermutlich 1928. Meitner erhielt den Nobelpreis nie, Otto Hahn erwähnte sie nicht einmal, als er seinen Chemienobe­lpreis bekam.

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