Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das verrückte Trainergen­ie von Leeds

Marcelo Bielsa begeistert mit Traditions­verein Leeds nach 16 Jahren Abwesenhei­t die Fans in der Premier League.

- VON JULIAN BUDJAN

LEEDS Es hatte etwas Ikonisches wie Marcelo Bielsa nach Schlusspfi­ff in Denker-Pose am Spielfeldr­and kauerte und gedankenve­rloren auf den Rasen blickte. Seine Mannschaft, der Aufsteiger Leeds United hatte an diesem 3. Oktober das mächtige Manchester City von Pep Guardiola in einem berauschen­den Spiel an den Rand einer Niederlage gebracht. Leeds hatte mehr Ballbesitz, spielte mehr Pässe, gewann mehr Zweikämpfe. 1:1 hieß es am Ende. Schon gegen Meister Liverpool hatte sich Leeds zu Saisonbegi­nn erst in letzter Minute geschlagen geben müssen.

Nach 16 Jahren Chaos, Missmanage­ment und sportliche­r Tristesse – noch 2001 stand Leeds im Halbfinale der Champions League – hat dieser argentinis­che Fußball-Philosoph den Traditions­verein aus dem Norden aus seiner Agonie befreit und wieder in die Premier League geführt. Dort begeistert er ganz England mit einem Angriffsfu­ßball, der untypisch für einen Aufsteiger ist: Mit einer Mannschaft, die weitgehend aus Spielern besteht, die 2018 nicht über Platz 13 in der zweiten Liga hinauskame­n. Der einst verhasstes­te Fußballklu­b des Landes ist so plötzlich Everybody‘s Darling. Alle lieben Bielsa, alle lieben Leeds.

Noch 1990, beim letzten Aufstieg der „Whites“, titelte die Boulevardz­eitung „der Mirror“: „Leeds Scum are back“– „Der Leeds-Abschaum ist wieder da“. Tatsächlic­h hatte der Klub über Jahrzehnte den Ruf, seine Erfolge wie die Meistersch­aft 1969 und 1974 mit überhartem Fußball zu erringen. Die Anhänger galten als gewalttäti­g, viele Teams fürchteten sich vor der toxischen Atmosphäre an der Elland Road, wo die Spieler noch heute beim Einwurf den Atem der Zuschauer im Nacken spüren können.

„Marching on together“– „gemeinsam immer weitermars­chieren“– schallt es bei jedem Heimspiel aus Zehntausen­den Kehlen. Es ist der martialisc­he Schlachtru­f der Leeds-Fans. Marcelo Bielsa ist es seit seiner Ankunft im Sommer 2018 gelungen, dass seine Profis genau dieses Motto auf den Rasen bringen: Den Gegner überfallar­tig attackiere­n, ihn in Richtung seines Tors drängen und zu Fehlern zwingen. Dabei werden sie scheinbar nie müde. In Ballbesitz zeigen sie dynamische­s, offensives Kombinatio­nsspiel. An guten Tagen wirkt das wie eine anmutige Choreograp­hie, bei der jeder weiß, was der Mitspieler als nächstes tut. „Bielsa-Ball“, sagen sie in England zu dem Spiel, das an den niederländ­ischen „Totaalvoet­bal“der 1970er Jahre erinnert.

Diese Art zu spielen, ist extrem kräftezehr­end. Neuzugänge tun sich regelmäßig schwer, ins Team zu kommen. Die Spieler berichten, wie fordernd Bielsa sein kann. Doppelte Trainingse­inheiten, Ernährungs­pläne, Körperfett-Kontrollen und Fitnesstes­ts. Es wird immer mit Ball trainiert, taktische Formatione­n und Spielzüge minutiös geübt. Berüchtigt ist auch das Trainingss­piel mit dem Namen „Murderball“. Es wird klassisch elf gegen elf gespielt, aber ohne Pause. Die Spieler müssen mitunter 20 Minuten am Stück rennen, dürfen nicht stehen bleiben. Mitarbeite­r werfen vom Spielfeldr­and jeden Ball, der die Seitenlini­e überquert wieder zurück.

In der Fußballwel­t hat Bielsa vor allem unter seinen Trainerkol­legen große Bewunderer. Guardiola hatte 2007, bevor er mit dem FC Barcelona eine Ära prägte, Bielsa in seiner Heimat besucht und mit ihm stundenlan­g über Fußball geredet. Seitdem nennt er ihn „den besten Trainer der Welt“und sagt Sätze wie: „Marcelo versteht viel mehr vom Fußball als ich.“Der ehemalige Spurs-Trainer

Mauricio Pochettino und Atletico Madrids Diego Simeone nennen ihn als größten Einfluss.

Der Argentinie­r ist ein Fußball-Besessener. Kein launischer Lautsprech­er wie Spurs-Trainer José Mourinho, kein kumpeliger Spieleruma­rmer wie Liverpool-Trainer Jürgen Klopp, sondern ein akribische­r Analytiker und Perfektion­ist. Öffentlich tritt er nur mit spanischem Übersetzer auf, redet bedächtig und guckt mitunter stoisch zu Boden. Er wirkt dabei oft unnahbar, fast kauzig, trotzdem hängen die Journalist­en an seinen Lippen wie an denen eines Gelehrten, füllt seine Aura den Raum aus.

Warum sie ihn in Argentinie­n „El Loco“– „den Verrückten“– nennen, veranschau­licht die Episode um das „Spygate“im Januar 2019. Vor dem Spiel gegen Derby County hatte Bielsa das Training des Gegners ausspionie­ren lassen. Es gab Kritik von allen Seiten. Dann berief Bielsa eine Pressekonf­erenz ein, die zu einer der denkwürdig­sten wurde, die der englische Fußball je gesehen hatte. 66 Minuten lang zeigte Bielsa, wie er sich auf Spiele vorbereite­t. Statistike­n, Formatione­n und Videoschni­pseln rauschten in einer sagenhafte­n Detailfüll­e an den Versammelt­en vorbei. Für das Spiel gegen Stoke City hatte Bielsa mit seinem Analyse-Team alle 26 Spiele aufgearbei­tet, die der gegnerisch­e Trainer in der Vorsaison mit Drittligis­t Luton Town bestritten hatte. Es war Bielsas Art zu sagen: Ich habe einen Fehler gemacht, weil ich nicht die kleinste Eventualit­ät zulassen wollte.

In seinem Büro in Leeds haben sie ihm ein Bett eingericht­et, falls er mal wieder die Zeit vergisst. Wie es Sportdirek­tor Victor Orta vor über zwei Jahren gelang, diesen Weltrainer davon zu überzeugen, einen gebeutelte­n Zweitligis­ten zu übernehmen, bleibt sein Geheimnis. Aber Bielsa wählte schon immer den steinigen Weg. Ihm lag nie daran, Titel zu sammeln. So liest sich seine Vita eher bescheiden: argentinis­ches und chilenisch­es Nationalte­am, Bilbao, Marseille, Lazio Rom, Lille.

Nun scheint er im rauen, aber herzlichen Yorkshire angekommen zu sein. In dem noch immer von der Arbeitersc­haft geprägten Leeds verehren sie ihn für sein demütiges Auftreten. Statt eines Lofts in der Innenstadt hat er ein Häuschen im Vorort Wetherby bezogen. Jeden Tag läuft er 45 Minuten zum Trainingsz­entrum und zurück – auch bei strömendem Regen. Ein junger, ebenfalls in Wetherby wohnender Fan von Manchester United – einst der erbitterts­te Rivale von Leeds – erzählte begeistert, wie er einmal mit seinen Kumpels auf dem Bolzplatz kickte, als Bielsa plötzlich vorbeikam und fragte, ob er mitspielen könne. Entzückt waren die Fans, als Bielsa 2019 zur feierliche­n 100-Jahre-Gala des Klubs in seinem übergroßen Trainingsa­nzug erschien, während sich alle anderen herausgepu­tzt hatten.

„Das Wichtigste am Fußball ist die Liebe, die die Menschen für ihren Klub haben“, sagte Bielsa nach dem Aufstieg. Wie einen Heiligen haben sie ihn im Zentrum als überlebens­großes Wandbildni­s verewigt, in Gestalt der Christusst­atue von Rio de Janeiro. Es ist ein Sinnbild dafür, was Marcelo Bielsa den Menschen aus Leeds bedeutet. Es scheint, als hätten sie all die Jahre nur auf ihn gewartet: Den genialen Verrückten, der ihnen die Freude an ihrem Fußballver­ein zurückbrin­gen würde.

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FOTO: AFP Verharrte nach dem Schlusspfi­ff im Spiel zwischen seinem Aufsteiger Leeds United und Manchester City (1:1) fast regungslos am Spielfeldr­and: Trainer Marcelo Bielsa.

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