Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Generation „Lost“

Das Jugendwort des Jahres legt nahe, dass junge Leute wenig Lust auf Zukunft haben.

- VON DOROTHEE KRINGS

Nun wäre es einfach, von der verlorenen Generation zu sprechen. Denn das Jugendwort des Jahres ist „lost“. 48 Prozent der Teilnehmer einer Abstimmung im Internet stimmten für dieses Wort. Insgesamt beteiligte­n sich eine Million Nutzer an der durch den Verlag Langensche­idt angeregten Wahl. „Lost“bedeutet verloren, und es ist die englische Kurzformel für einen Zustand, den im Moment nicht nur junge Menschen empfinden: Wer „lost“ist, bewegt sich in einem wabernden Zwischenre­ich, das niemand überblickt. Er ist ahnungslos, unsicher, zögerlich, sieht am Horizont wenig Kontur, hat keine Idee von der Zukunft, lässt sich treiben im Ungefähren.

Sofia Coppola hat über diesen Zustand einen grandiosen Film gedreht, in dem zwei Menschen aus den USA in einem Hotel in Japan stranden. Dieses Hotel ist wie eine Blase westlicher Standards in der von Werbetafel­n flimmernde­n japanische­n Kultur. „Lost in Translatio­n“heißt der Film, und schon da ist das Lost-Sein eine auch reizvolle moderne Daseinsfor­m, die sich dem Ungewissen hingibt, nichts will, die Verlorenhe­it schmerzlic­h auskostet, den Rückzug in den Nebel der Ahnungslos­igkeit zelebriert. Moderne Romantik.

Ist eine Jugend, die „lost“zu ihrem Wort macht, also eine verlorene Generation? Von einer Pandemie am Aufbruch in die weite Welt gehindert und ums wilde Partymache­n mit anderen ihrer Generation gebracht? Tatsächlic­h hat Corona der Generation „lost“etwas genommen, das unbedingt zum Jungsein gehört: die Unbeschwer­theit. Wer jede Reise, jede Party, jeden Schritt vor die Tür mit den gerade gültigen Corona-Regeln abgleichen muss, verliert die Lust, einfach loszulaufe­n, Rucksack auf, raus ins Leben, sehen, was kommt.

Nur logisch, dass junge Leute den umgekehrte­n Weg einschlage­n, sich ins „lost“zurückzieh­en, alle Fragen von Erwachsene­n nach Lebensplan­ung oder der Gestaltung des nächsten Wochenende­s mit „keine Ahnung“abtun. Denn auch im Lost liegt Freiheit, wenn auch dunkler getönt. Auch das wussten schon die Romantiker, als sie sich pathetisch von der Welt abkehrten, in der wilden Natur ihr Glück suchten, auf Rügen an die Klippe traten und in den Nebel schauten. „Lost“bedeutet auch: Lasst uns in Ruhe! Lasst uns treiben, bis sich das Ding mit Corona geklärt hat. Dann können wir weitersehe­n. Und so lange taucht die Generation „Lost“eben ein in die süße Ahnungslos­igkeit, zuckt erschöpft mit den Schultern, chillt in der Aussichtsl­osigkeit. Bis auf Weiteres.

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Der Ausdruck „lost“steht für den Zustand der Ahnungslos­igkeit oder Unentschlo­ssenheit.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Der Ausdruck „lost“steht für den Zustand der Ahnungslos­igkeit oder Unentschlo­ssenheit.

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