Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Maestro mit 25
Der aus Graz stammende Patrick Hahn wird jüngster deutscher Generalmusikdirektor. Er übernimmt 2021 das Wuppertaler Sinfonie-Orchester.
WUPPERTAL Neulich sagte ein befreundeter Wiener Musikkritiker: „Ihr da oben im Ruhrgebiet seid ja derzeit im gelobten Land.“Als ich nachfragte, wie er das meine, sagte er: „Na, tolle Chefdirigenten überall, in Köln, in Düsseldorf, in Bonn und Duisburg. Einige stehen sogar bei uns an der Wiener Staatsoper am Pult.“Bis auf die Sache mit seinen Geografie-Kenntnissen (Ruhrgebiet!) hat der Kollege vollkommen recht.
Jetzt wird die Liste erweitert, denn Patrick Hahn kommt. Er ist 25 Jahre alt, stammt aus einem Dorf bei Graz und wird jüngster deutscher Generalmusikdirektor – in Wuppertal. Der immens begabte junge Mann ist derzeit international einer der am lautesten bejubelten Jungdirigenten. Kurt Masur und Bernard Haitink waren seine Lehrer; sogar in Tanglewood, der Kaderschmiede im US-Bundesstaat Massachusetts, ließ man den Steirer ans Pult. Seine Konzerte mit den großen Orchestern in München, Wien, Dresden, Amsterdam, Köln, Hamburg und Düsseldorf hinterließen ein staunendes Publikum und fragend-euphorische Kritiken: Wann hat der das alles gelernt?
Gewiss hat sich Hahn alles in irrwitziger Zeitbeschleunigung angeeignet. Hat sich Partituren einverleibt, bei Größeren zugeschaut, selbst geübt, am Klavier gesessen und in Proben experimentiert. Schon mit elf Jahren wurde er in die Klavierklasse der Grazer Musikhochschule aufgenommen, danach studierte er dort Dirigieren und Korrepetition. Nebenbei nahm er noch Kompositionsunterricht und schrieb ein Stück für den Chor des Bayerischen Rundfunks, die „Ballad of Christmas Ghosts“. Die er im Weihnachtskonzert 2019 auch selbst dirigierte, logisch.
Eine Inselbegabung, die ansonsten von Defekten geplagt wird, ist er aber nicht: Er scheint ganz von dieser Welt, er plaudert frisch, lebhaft, nachdenklich. Das Gegenteil eines Besserwissers. Eher ein Frühreifer, dem das Glück zuflog, zur richtigen Zeit am richtigen Pult zu stehen. Und mit Leuten in Kontakt zu geraten, die ihm diese Pulte zutrauten. Vom Boden hebt der Sohn eines Schlossers und einer Industriekauffrau aber nicht ab. Bewundernswert ist beispielsweise seine soziale Ader: „In dem 800-Seelen-Dorf meiner Heimat gibt es eine Klinik, und da gebe ich gern kleine Konzerte für Patienten – und habe da auch mal Chansons von Georg Kreisler ausprobiert und vom Klavier aus gesungen.“Also Entertainer im Nebenberuf – als hätten wir’s geahnt.
Eine Welpenaufzucht findet beim Wuppertaler Sinfonie-Orchester nicht statt. „Hahn kann schon sehr, sehr viel, den haben wir mit dem ersten Moment ins Herz geschlossen“, sagt ein erfahrener Geiger des Orchesters. Auch im Chor des Bayerischen Rundfunks schwärmt eine Sängerin: „Er steckt uns an mit seiner positiven Energie und bringt alles mit einem souveränen Wiener Schmäh rüber.“Hoppla, Wiener Schmäh? Als Grazer in Wien verortet zu werden, könnten andere Menschen als satisfaktionswürdige Beleidigung auslegen. Hahn freut sich, lächelt und gibt eine Weisheit kund: „Wien ist ja die große Schwester von Graz, von der man sich gern schon mal distanziert. In Wirklichkeit sind die Wiener total liebenswert. Man muss sie nur kennenlernen.“
Als Kind hat er solistisch bei den Grazer Kapellknaben gesungen. „Das ist“, sagt er, „ein absoluter Vorteil, nicht nur bei der Arbeit mit Sängern und Chören. Etwas vorsingen, das geht immer.“Wer wissen will, welche Orchesterinstrumente er nicht beherrscht, bekommt eine ehrliche und heitere Antwort: „Da werden wir heute nicht mehr fertig.“Bescheiden erzählt er von Vorbildern: erst Gustavo Dudamel, der
Feuerkopf aus Venezuela. Dann Nikolaus Harnoncourt, der große Mozart-Versteher. Und derzeit der besessene Kirill Petrenko, dem Hahn an der Bayerischen Staatsoper oft assistiert hat. Dort trainierte er den Tenor Jonas Kaufmann für die Partie des Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Hahn seine erste Platte herausbrachte. Jetzt ist sie beim Label Alpha erschienen, mit Ludwig van Beethovens ersten beiden Klavierkonzerten, dem Pianisten Olivier Cavé und der Kammerakademie Potsdam. Hahn denkt keine Sekunde daran, diskret zu begleiten, er macht Chefstücke daraus. Und riskiert einen wundervollen Zeitensprung – vom galanten Stil der Vorklassik direkt in die Frühromantik. Gleich der Beginn des C-Dur-Konzerts
ist orchestral derart charmant, pfiffig und delikat musiziert, dass es einen umhaut. Blühende Landschaften. Zum Glück ist auch der Pianist toll.
Die Corona-Pandemie hat Hahn einige Auftritte gekostet, etwa einen Abend mit Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe in Irland, die ihm wichtig war, um sich auch in Barockmusik – vermutlich meisterlich – zu versuchen. Auch die Zukunft liegt, was die kommenden Monate anbelangt, noch in Finsternis. Hahn wird wie immer das Beste daraus machen. Vor allem bereitet er sich auf Wuppertal vor und hat auch schon eine Idee, was da wichtig sein wird: „Für eine Chefstelle muss man viel Menschliches und viel Organisatorisches mitbringen.“Diese Reihenfolge ist für einen Künstler mit Führungsanspruch bemerkenswert.