Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Goldrausch in der Türkei
Die Wirtschaftskrise und der Währungsverfall treiben die Nachfrage in die Höhe – viele Bürger versuchen, ihre Ersparnisse zu schützen.
ISTANBUL Vor Goldgeschäften im Großen Basar von Istanbul stehen die Kunden bis zur Ladentür hinaus Schlange. Der Massenandrang ist derzeit ein seltener Anblick im Basarviertel, weil die Corona-Pandemie die Touristen fernhält. Doch es sind einheimische Kunden, die gezielt kaufen wollen. „Wir verkaufen achtmal so viel wie in normalen Zeiten“, sagt Ibrahim Balci vom Goldhändler Regold in der Nähe des Basars.
Um ihre Ersparnisse vor der Wirtschaftskrise und dem Kursverfall der Lira zu schützen, stecken die Türken so viel Edelmetall unter die Matratze, dass ihr Land Rekordmengen an Gold importieren muss: In den ersten acht Monaten des Jahres stieg die Goldeinfuhr der Türkei im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als 150 Prozent. Inzwischen lagern in türkischen Wohnungen bis zu 5000 Tonnen Gold, schätzt die Branche.
In der Türkei vergeht derzeit fast kein Tag ohne Meldungen über ein neues Rekord-Tief der Lira. Für einen Dollar müssen die Türken mittlerweile fast acht Lira bezahlen, das sind mehr als 20 Prozent mehr als zu Jahresbeginn. Beim Euro ist der Absturz noch steiler: mehr als neun Lira kostete ein Euro zuletzt – ein Wertrückgang von über 25 Prozent seit Anfang Januar. „Gold ist schon seit Jahrtausenden der sichere Hafen in Krisenzeiten“, sagt Goldhändler Balci. Viele seiner Kunden wetten darauf, dass sich die Krise noch verschärfen und dass der Goldpreis deshalb noch weiter steigen wird. Manche Normalbürger verkaufen ihr Auto, um den Erlös in Gold anzulegen.
Goldbarren kann sich zwar kaum jemand leisten, doch Gold gibt es in verschiedenen Formen, Größen und Gewichten. Von kleinen Münzen mit dem Porträt von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bis zu Armbändern, Goldketten und Goldplatten, die auf das gewünschte Gewicht zurechtgeschnitten werden, ist alles zu haben. Zu Hochzeiten, Geburten und Beschneidungen wird ebenfalls gern Gold verschenkt. Im ostanatolischen Kahramanmaras bietet ein Juwelier vergoldete Corona-Schutzmasken für 14.000 Lira an – das sind rund 1500 Euro und das Sechsfache des türkischen Mindestlohnes, mit dem Millionen Beschäftigte im Land auskommen müssen.
Verkaufsschlager in Balcis Geschäft am Basar in Istanbul sind kleine Goldplatten von einem Gramm, die in Plastik eingeschweißt über die Ladentheke gehen. Im Januar kostete das Gramm umgerechnet rund 290 Lira, heute sind es 475 Lira. Verkaufen will aber kaum jemand, weil die meisten Kunden erwarten, dass der Preis weiter anzieht. „An manchen Tagen haben wir nicht genug Gold im Laden und müssen die Leute wegschicken“, sagt Balci.
Die Türken wissen aus leidvoller Erfahrung mit Hochinflation und Kurseinbrüchen in den vergangenen Jahrzehnten, wie sie mit Krisen umgehen können. Auch in früheren Zeiten deckten sich viele Verbraucher mit Gold ein. Diesmal erreiche die Nachfrage aber neue Dimensionen, sagt Balci: Wer das Geld zusammenkratzen könne, kaufe Gold. „Ich habe mal etwas gekauft und gesehen, dass der Kurs hochging. Da habe ich noch mal zugeschlagen“, sagt ein Istanbuler. Wegen der Corona-Krise hat er seine Arbeit verloren und kann nun kein Gold mehr dazukaufen.
Die türkische Wirtschaft ist nicht nur wegen der Pandemie und der weltweiten Krise im Sinkflug. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan schiebt die Schuld auf Kräfte im Ausland, die der Türkei angeblich feindlich gesinnt sind und das Land in die Knie zwingen wollen. Kritische Wirtschaftsexperten wie Baris Soydan von der Nachrichtenplattform T24 verweisen dagegen auf hausgemachte Probleme wie das hohe Zahlungsbilanzdefizit und die Negativ-Zinsen: Weil die Zentralbank die Zinsen unter die Inflationsrate gesenkt hat, lohnen sich Anlagen in Lira nicht mehr. Interventionen der Zentralbank am Geldmarkt zur Stützung des Lira-Kurses lassen die Währungsreserven des Landes dahinschmelzen. Auch außenpolitische Spannungen wie der Streit mit Griechenland und der EU um Hoheitsgebiete im Mittelmeer drücken auf die Stimmung.
Im Sommer kauften die Türken deshalb zeitweise innerhalb von nur zwei Wochen Gold im Wert von fast sechs Milliarden Euro, wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete. Rund 3500 bis 5000 Tonnen Gold würden inzwischen von Privatpersonen gehortet, sagte Ayse Eysen, Chefin der Istanbuler Gold-Raffinerie IAR, der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. Bisher hat die Regierung ihre Bürger nicht überzeugen können, das Gold wieder zu verkaufen und mit den Erlösen die Wirtschaft anzukurbeln.
Ein Ende des Gold-Booms ist nicht abzusehen. Goldhändler Balci ist sicher, dass es mit der Wirtschaft in der Türkei und in der Welt erst einmal weiter abwärts gehen wird: „Die eigentliche Krise wird erst noch kommen.“
„Die eigentliche Krise wird erst noch kommen“
Ibrahim Balci Goldhändler in Istanbul