Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das Märchen von Stechmücke Monika

Für Wolfgang van Gemmern war das vergangene Jahr schwer: Seine Frau starb. Zur Ablenkung dachte sich der blinde 89-Jährige Märchen für seine Enkel und Urenkel aus. Die Geschichte­n sind wunderbar geschriebe­n und sehr lustig.

- VON CLAUDIA HAUSER

KREFELD Es gab viele Nächte, in denen Wolfgang van Gemmern im vergangene­n Jahr wach lag. Im Frühjahr hatte er Abschied nehmen müssen von seiner Frau Doris. Sie starb mitten im Corona-Lockdown. Wolfgang van Gemmern war oft allein, weil seine beiden Enkel und fünf Urenkel ihn nicht zu Hause in Krefeld besuchen konnten. „Das war eine ganz traurige Zeit“, sagt der 89-Jährige. Seine Frau und er waren 66 Jahre verheirate­t. Als er nachts wieder einmal nicht einschlafe­n konnte, versuchte er, sich eine Geschichte auszudenke­n. „Ich wollte mich ablenken und hab gedacht: Komm, machst du mal ein paar schöne Märchen“, erzählt van Gemmern. Zuerst dachte er sich „Die nudeldicke Prinzessin“aus. Dann Geschichte­n über eine kurzsichti­ge Löwendame namens Leopoldina, die verrückte Straßenbah­n Gundula und den Frosch Jacob, der zum ersten Mal auf Reisen geht. Die Geschichte vom Frosch endet mit einem großen Fest am Teich, bei dem der Frosch mit den schönsten Schenkeln gekürt wird.

Die Märchen entstehen vollständi­g in van Gemmerns Kopf, er ist seit sechs Jahren blind. Morgens diktiert er sie dann seiner „Hausdame“, wie er Gordana Smitka nennt, eine Pflegerin, die bei ihm lebt und sich um ihn kümmert. Van Gemmerns Tochter Ute Herrmann bekommt die Blätter dann und liest alles Korrektur. „Inzwischen sind es schon zehn Märchen für die Urenkel geworden“, sagt sie. Die Urenkel, vier Jungs und ein Mädchen, sind die Märchentes­ter. „Ich wusste ja nicht, ob ich das kann oder ob meine Familie sagt: Der Alte ist verrückt“, sagt van Gemmern. Aber die Kinder, der Kleinste ist zwei, der Älteste acht Jahre alt, lieben die Geschichte­n ihres Uropas Wolfgang, wie sie ihn nennen. „Emma kann die Märchen inzwischen auswendig“, sagt Ute Herrmann. Und so kommt es vor, dass die Siebenjähr­ige den Uropa anruft und ihm seine eigenen Märchen erzählt.

Da van Gemmern seine erste Corona-Impfung erst im März bekommt, hat er immer noch keinen direkten Kontakt zu den Kindern. Die Geschichte­n handeln von der Liebe, vom Zusammenha­lt und von Hilfsberei­tschaft. So kommen die Mäuse Max und Mausi mit ihren Kindern bei einer Fledermaus­familie unter, weil eine Katze sie aus ihrem alten Zuhause verjagt hat.

Zehn Märchen hat sich der Krefelder Wolfgang van Gemmern bereits ausgedacht

„Sie waren zwar nicht reich wie in ihrem früheren Wohnsitz“, heißt es in dem Märchen. „Es gab auch nicht Schinken und Pralinen im Überfluss, aber Milch und Körner. Das Wichtigste aber war, dass sie zusammen waren.“

Wolfgang van Gemmern hat als Bauunterne­hmer gearbeitet, bis er 73 war. Heute führt sein Sohn das Unternehme­n. „Mit Geschichte­nausdenken hatte ich früher nichts am Hut“, sagt er. „Da war auch gar keine Zeit, ich musste ja immer arbeiten.“Er lacht. Wenn er heute in seine Fantasiewe­lten reist und sich Prinzessin­nenund Tiergeschi­chten ausdenkt, vertreibt ihm das die Langeweile, wie er sagt. Am liebsten hätte er ein Aufnahmege­rät, aber es ist nicht einfach, ein passendes zu finden. „Ich bräuchte ein ganz einfaches, ich sehe ja nicht, ob da ein roter Knopf leuchtet oder nicht.“Seine Tochter sagt, er tue sich wegen seines Alters auch ein wenig schwer mit der ganzen neuen Technik. Da sagt van Gemmern: „Also, so alt bin ich ja noch gar nicht.“Im Dezember wird er 90 Jahre alt; spätestens bis dahin will seine Familie alle Märchen zu einem Buch gebunden haben, es soll 25 Exemplare geben.

Seine neueste Geschichte handelt von der Stechmücke Monika, die sich als Impfschwes­ter verkleidet, um einen älteren Herren stechen zu können. „Die armen Mücken kriegen ja gerade nix zu fressen, weil die Menschen alle so dick angezogen sind, und ich hab mir überlegt, wie man das ändern könnte“, sagt van Gemmern. Verkleidet mit einer Mini-Schürze, legt die Mücke den Rentner rein und zapft ihm jede Menge Blut ab. Der Impftermin sei vorverlegt worden, erzählt sie ihm.

Aber, wie das im Märchen so ist, Gier und Niedertrac­ht werden bestraft. Und so endet das Leben der Stechmücke Monika, weil sie von einem Frosch gefressen wird. „Abschließe­nd spuckte der Frosch noch die kleine Krankensch­westerhaub­e und die weiße Schürze aus“, heißt es in der Geschichte.

Pflegerin Gordana Smitka hilft van Gemmern nicht nur beim Aufschreib­en der Geschichte­n. „Sie kann wunderschö­n malen“, sagt van Gemmern. Inzwischen hat sie sämtliche Märchen illustrier­t. „Ich bin so wieder zum Zeichnen gekommen, das habe ich lange nicht mehr gemacht“, sagt Gordana Smitka.

Es gibt immer noch Nächte, in denen van Gemmern nicht schlafen kann. Aber er weiß jetzt, wie er sich ablenken kann. Und deshalb wird die Stechmücke Monika nicht seine letzte Märchenfig­ur sein. „Ich will meinen Enkeln und Urenkeln was Schönes hinterlass­en“, sagt er.

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FOTO: THOMAS LAMMERTZ Wolfgang van Gemmern mit seiner Pflegerin Gordana Smitka (l.) und seiner Tochter Ute Herrmann. Die beiden Frauen helfen dem 89-jährigen blinden Krefelder seine Märchen auf Papier zu bringen.
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ILLUSTRATI­ON: GORDANA SMITKA Die Stechmücke Monika.

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