Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Gewissen und Zivilcourage
Vor 500 Jahren stand Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms – und schrieb Weltgeschichte, indem er die Freiheit des Individuums betonte.
DÜSSELDORF Es war vor 500 Jahren. In der freien Reichsstadt Worms, einer alten Kaiserstadt im Südwesten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, tagte seit Januar 1521 der Reichstag – der erste seit der Krönung des jungen Königs Karl V. in Aachen. Es ging um die Einsetzung eines Reichsregiments für die Zeit, in der der Habsburger in Spanien weilte, um die Ordnung für die Finanzen und Verteidigung des Reiches – und um Martin Luther.
Denn im Januar hatte Papst Leo X. den Kirchenbann über Luther verhängt. Darauf stand normalerweise die Reichsacht, die Vogelfreiheit im Reich. Doch zuvor, das hatten die Reichsstände beim Kaiser durchgesetzt, sollte Luther vor dem Reichstag verhört werden. Am 17. und 18. April 1521 stand der Theologieprofessor aus Wittenberg vor den Fürsten, Grafen, Bischöfen, Reichsrittern, der Elite des Reichs – und widerrief seine Schriften auch nach einem Tag Bedenkzeit nicht. Stattdessen berief er sich in einer Rede auf sein Gewissen und die Bibel: Wenn er nicht „durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe“überzeugt werde, könne er seine Schriften nicht widerrufen. Später wurde bei Berichten auch der
„Hier stehe ich und kann nicht anders“
Martin Luther in einem Manuskript – ob er den Satz in Worms gesagt hat, ist umstritten
berühmte Satz „Hier stehe ich und kann nicht anders“zitiert, den Luther handschriftlich einem Manuskript für seinen Buchdrucker hinzufügte. Ob er tatsächlich so gefallen ist, ist in der Forschung umstritten.
Nicht umstritten ist, dass vor 500 Jahren in Worms Weltgeschichte geschrieben wurde. Der Auftritt Luthers vor dem Reichstag habe gegen alle Regeln der Zeit verstoßen, sagt der Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies: „Die Irrsinnigkeit der Szene von damals, dass da ein kleiner Professor vor den Granden des Reichs auftritt und solchen Einfluss auf die Tagesordnung bekommt, ist uns heute gar nicht mehr so richtig deutlich.“Luther habe deutlich gemacht: „Alle Regularien haben ihre Grenzen an der Freiheit des Individuums.“Dies sei in Worms auf ganz eindrückliche Weise sichtbar geworden.
Ähnlich sieht das auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel. „Als Christinnen und Christen werden wir nach evangelischer Überzeugung nicht von außen bestimmt – nicht durch Kaiser, Päpste oder Reichstage“, sagt Thorsten Latzel. „Entscheidend für uns ist vielmehr, was wir in Jesus Christus als Gottes Wille erkennen: seine unbedingte, grenzenlose Liebe zu allen Menschen.“Daran allein sei das menschliche Gewissen gebunden. „Und das macht uns frei, allem zu widerstehen, was dieser Liebe widerspricht“, sagt Latzel. „Eine solche protestantische Existenz meint etwas völlig anderes als die selbst ernannten ‚Querdenker‘ heute: Sie macht ernst mit der Wahrheit, ist von liebevoller Hingabe bestimmt und inszeniert sich nicht selbst auf Kosten anderer.“
Am Wochenende soll des Auftritts Luthers vor dem Reichstag deswegen mit einem Festakt gedacht werden, an dem auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnehmen wird – digital, denn die Pandemie macht auch vor Jubiläen nicht halt. „Der Auftritt Luthers damals war ein großer Akt der Zivilcourage“, sagt Fabian Vogt, der für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau das Jubiläum in Worms organisiert. Demzufolge soll auch Zivilcourage eine wichtige Rolle spielen: Das SWR-Fernsehen werde am Samstag etwa den „Luther-Moment“übertragen, eine Inszenierung vom Wormser Marktplatz, die daran erinnern soll, wie Luther in der Nacht vom 17. auf den 18. April 1521 über seine Verteidigungsstrategie nachdachte. Und in kleinen Einspielern soll an andere erinnert werden, die Zivilcourage zeigten, von Rosa Parks über Mahatma Gandhi bis hin zu Sophie Scholl. Denn vor 500 Jahren in Worms war Martin Luther vielleicht einer der Ersten, die sich öffentlich auf ihr Gewissen beriefen. Der einzige aber blieb er nicht.