Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“
Der deutsche Botschafter in Neu Delhi über die dramatische Corona-Lage in Indien und den Überlebenskampf vieler Infizierter.
NEU DELHI Walter Lindner ist Zuhause am Telefon. Seine Residenz hat der deutsche Botschafter in Neu Delhi seit Wochen nicht verlassen. Eine neuartige besonders aggressive Doppelmutante des Coronavirus hält Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern gefangen. Ein Gespräch über Tage und Wochen im Ausnahmezustand.
Herr Botschafter, gehen Sie noch vor die Tür?
WALTER LINDNER Wir haben seit zwei Wochen einen totalen Lockdown. Niemand darf nach draußen, der nicht wirklich einen Grund hat, einen Arztbesuch zum Beispiel oder einen Impftermin. Die Zahl der Neuinfektionen mit täglich mehr als 350.000 Menschen ist derart hoch, dass man auch aus Gründen des Selbstschutzes nicht auf die Straße gehen sollte. Sie erwischen mich hier in der Residenz, die ich seit Wochen nicht verlassen habe und auch keine Besucher empfangen kann. Selbst zum Joggen schleicht man sich höchstens in den Abendstunden vor die Tür, einmal um den Block und dann gleich wieder zurück.
Wie geht es Ihren Mitarbeitern an der Botschaft?
LINDNER Wir haben eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, deutsche und indische Ortskräfte, die selbst erkrankt sind oder deren Angehörige sich infiziert haben. Wir haben Mitarbeiter, die auf der Intensivstation liegen. Es ist ernst. Die Situation ist so, wie es auch die Weltgesundheitsorganisation beschreibt: jenseits von herzzerreißend. Vielleicht tragen die schrecklichen Bilder der letzten Tage dazu bei, dass die internationale Hilfe jetzt schneller anläuft.
Wie viele Deutsche sind noch im Land?
LINDNER Einige Tausend werden es wohl sein, vor allem Geschäftsleute. Viele Deutsche sind aber auch ausgereist, weil ihnen ein Verbleib im Land zu gefährlich erschien, weil das Gesundheitssystem kollabiert.
Indien ist weltweit größter Hersteller von Impfstoff. Warum kann die Regierung die eigene Bevölkerung nicht besser schützen?
LINDNER Indien ist ein Riesenland mit einer für europäische Verhältnisse
kaum greifbaren Dimension: 1,3 Milliarden Menschen. Allein die Hauptstadt Delhi zählt 24 Millionen Einwohner, viele davon leben in ärmlichen Verhältnissen, dicht an dicht. Abstandsregeln durchzusetzen ist in diesem Umfeld für jede Regierung schwierig. Zudem gibt es logistische Herausforderungen angesichts der Größe des Landes.
Bei 40 Grad im Schatten kann man das Leben nicht komplett ins Freie verlagern. Dazu kommt die Doppelmutation des Virus, die besonders aggressiv und besonders ansteckend zu sein scheint. Bei den 350.000 Neuinfektionen täglich ist die erhebliche Dunkelziffer noch gar nicht eingerechnet. Mit solchen Zahlen umzugehen, wäre für jedes
Land der Welt eine riesige Herausforderung.
Wird zu viel Impfstoff ins Ausland verkauft?
LINDNER Im Moment bleibt der meiste Impfstoff im Land. Aktuell sind 120 Millionen Menschen geimpft, weniger als zehn Prozent der Bevölkerung von 1,3 Milliarden bei einem höchst aggressiven Virus. Der Impfprozess läuft an. Wie in Deutschland geht er die Alterspyramide abwärts. Mittlerweile bin auch ich geimpft mit einem von Astrazeneca in Indien produzierten Vakzin. Die einzige Möglichkeit, die Pandemie in diesem Riesenland einzudämmen, ist neben dem Lockdown das Impfen. Die indische Regierung möchte auch Impfstoff ins Ausland liefern, sie muss jetzt aber erst einmal auch an die eigene Bevölkerung denken.
Hat die Regierung von Premierminister Narendra Modi die Lage unterschätzt und zu früh gelockert? LINDNER Nach der zweiten Welle im November war Indien auf gutem Weg. Aber dann war man sich aus heutiger Sicht eventuell zu sicher, die Pandemie im Griff zu haben. Und es gibt ja weltweit eine gewisse Müdigkeit nach zwölf Monaten der Einschränkungen. Ich will keine Schuldzuweisungen machen. Aber es zeigt uns allen, dass man nicht zu früh siegesgewiss sein darf. Und hinzu kam eben on top, dass es diese besondere Art der Mutation gab, die sich besonders schnell ausbreitet und für die hohen Zahlen verantwortlich ist.
War es ein Fehler der Regierung Modi, die Wanderarbeiter nach Hause zu schicken, weil dadurch das Virus im Land optimal verbreitet worden ist?
LINDNER Damals kam diese Kritik natürlich auf. Aber es war weniger die Verbreitung des Virus, als die Tatsache dass sich die Menschen aus purer Not auf tagelange Märsche begeben mussten. Das war sicher eine schwierige Situation, trotzdem waren die Todeszahl und die Zahl der schweren Covid-Fälle seinerzeit nicht so schlimm wie heute. Jetzt ist die Lage anders. Es gibt Situationen, wo Menschen auf den Straßen vor den Krankenhäusern ersticken, weil sie abgewiesen wurden, auch weil aktuell zu wenig medizinischer Sauerstoff verfügbar ist. Die Situation ist sehr, sehr schwierig. Die Herausforderungen vor denen das Land steht, sind aber auch besonders groß.
Was muss jetzt in Indien passieren? Wie können Länder wie Deutschland helfen?
LINDNER Indien braucht jetzt vor allem Sauerstoff und Atemgeräte. Und dann natürlich Masken und Medikamente. Der europäische Zivilschutzmechanismus ist jetzt aktiviert. EU-Staaten können melden, womit sie helfen können. Die Bundeswehr prüft etwa, eine mobile Anlage zur Herstellung von Sauerstoff per Lufttransport nach Indien zu bringen. Damit könnten Hunderte Menschen permanent mit Sauerstoff versorgt werden. Es gibt auch private Initiativen, die wir unterstützen: Die deutsche Linde-Gruppe und die indische Tata-Gruppe sind zum Beispiel gerade dabei, weltweit 24 Sauerstofftanks aufzutreiben, mit denen der lebensrettende Sauerstoff von den Produktionsstätten dann zu den Hotspots der Pandemie in Indien transportiert werden kann. Die indische Armee hat 20 kleinere Sauerstoffproduktionsstätten bei einem Unternehmen in Süddeutschland gekauft. Ich gehe davon aus, dass wir die Hilfe schnell nach Indien bringen können. Wir haben hier sehr schnell reagiert. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Jeder Tag zählt.
HOLGER MÖHLE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.