Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Für Erntehelfer hängt oft alles an ihrem Job“
Der Projektkoordinator berät Arbeiter aus dem Ausland, die nach NRW kommen, um Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu ernten.
Herr Pagonakis, wie viel Geld erhält ein Erntehelfer auf dem Spargelfeld oder fürs Erdbeerpflücken? PAGONAKIS Mindestlohn, also 9,50 Euro, das steht ihnen auf jeden Fall zu. Das Problem ist aber, dass das oft unterlaufen wird. Viele Erntehelfer machen unbezahlte Überstunden, es wird ihnen zu viel Geld für Miete, Verpflegung oder Anreise abgezogen. Unter dem Strich bekommen manche zwischen sechs und acht Euro die Stunde – also deutlich weniger als die gesetzliche Untergrenze.
Welcher Lohn wäre aus Ihrer Sicht für die Erntehelfer angemessen? PAGONAKIS Für die Arbeit in den Schlachthöfen hat die dafür zuständige Gewerkschaft jüngst 12,50 Euro gefordert. Auch bei der Ernte arbeiten die Menschen unter vergleichbar harten Bedingungen. Sie sind viele Stunden in der Sonne, es ist eine harte körperliche Arbeit. Da sind auf jeden Fall mehr als 9,50 Euro drin.
Würde sich das dann noch für die Landwirte rentieren? PAGONAKIS Sie werden natürlich sagen, dass es sich nicht rentiert. Aber ist das auch wirklich der Fall? Die Landwirte machen auch große Gewinne mit der Arbeit. Dabei zahlen sie Mindestlohn und keine Sozialversicherungen.
Wie schätzen Sie die Stimmung bei den Arbeitgebern ein? Wollen sie die Arbeitsbedingungen verbessern? PAGONAKIS Man muss differenzieren. Es gibt Bauern, die sich jedes Jahr freuen auf ihre Mitarbeiter, die sie gut behandeln und faire Arbeitsbedingungen bieten. Gerade für sie ist es besonders bitter, wenn sich andere nicht an die Regeln halten. Sie beschädigen das Bild der Landwirtschaft und verschaffen sich einen unfairen Wettbewerbsvorteil. Deswegen muss es auch im Interesse der Landwirte sein, dass alle die Regeln einhalten.
Sie beraten Menschen, die auf deutschen Feldern arbeiten. Was erleben Sie dabei?
PAGONAKIS Die meisten sprechen die Sprache nicht, machen eine Knochenarbeit und leben teilweise unter schlechten Bedingungen. Das ist eine der marginalisiertesten Arbeitsgruppen in Deutschland. Zu uns kommen diejenigen, die wirklich verzweifelt sind, das sind zum Teil sehr harte Fälle.
Ein Beispiel?
PAGONAKIS Wir erleben immer wieder, dass Menschen in die Obdachlosigkeit geraten. Das passiert, wenn der Landwirt sie rauswirft oder die Arbeiter selbst gehen, weil sie es nicht mehr ertragen. An dem Job hängt aber alles. Sie verlieren dann die Unterkunft und haben vielleicht nicht genug Geld für die Rückfahrt.
Wir hatten Fälle, bei denen die Leute hilflos tagelang durch die Gegend geirrt sind, bevor sie zu uns kamen.
Wie wirkt sich Corona auf die Arbeit der Erntehelfer aus? PAGONAKIS Uns berichten sie immer wieder von Verstößen. Es gibt die „Arbeitsquarantäne“– fünf bis zehn Tage nach Ankunft sollen die Arbeiter demnach auf dem Hof bleiben. Aber manchmal gibt es dort keine Verpflegung, und die Menschen müssen natürlich in den Supermarkt. Auch Hygienemaßnahmen werden zum Teil nicht eingehalten, in zahlreichen Fällen sammeln die Landwirte die Pässe ein, um Druck und Kontrolle auszuüben. Aber man muss differenzieren. Zu uns kommen natürlich die Menschen, die Hilfe brauchen. Es gibt auch Landwirte, die sich korrekt verhalten.
Hat sich bei der Anreise nach Deutschland etwas verändert? PAGONAKIS Im vergangenen Jahr war die Anreise anders, da hatten wir die Bilder von den vollen Flughäfen in den Heimatländern, es gab die „Luftbrücke“. Dieses Jahr kommen die Menschen über die Straßen,
in kleinen Bussen oder Transportern. Für uns ist das ein Problem: Wir können die Menschen nicht an einem zentralen Ort wie dem Flughafen über ihre Rechte aufklären.
Also war die „Luftbrücke“für die Erntehelfer aus Ihrer Sicht eine gute Lösung, trotz der Menschenmassen an den Flughäfen? PAGONAKIS Das hatte zumindest eines unserer Grundprobleme etwas entschärft: Es ist schwierig, die Menschen zu erreichen. Selbst am Flughafen hatten einige Bauern versucht, das zu verhindern. Jetzt kommen die Arbeiter mit dem Bus direkt an den Hof und sind erst einmal fünf bis zehn Tage in Quarantäne. Sie sind dadurch noch unsichtbarer geworden.
Erst vor einigen Tagen gab es auch eine gesetzliche Änderung: Der Bundestag hat beschlossen, dass Erntehelfer bis zu 102 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten können. Davor waren es 70 Tage. Was hat es damit auf sich?
PAGONAKIS Das bedeutet am Ende einfach, dass Menschen ungeschützter und ohne Zugang zur Krankenversicherung hier länger arbeiten können. Im vergangenen Jahr gab es ja einen großen Bedarf an Erntehelfern, viele mussten extra anreisen, damit es genug sind. Man hatte deswegen diesen Zeitraum auf 115 Tage erweitert. Dieses Jahr wollten das Lobbyverbände der Landwirtschaft wieder so durchsetzen – der Kompromiss waren diese 102 Tage. Aber da kann man nicht mehr von einer kurzfristigen Beschäftigung reden. Außerdem war diese Regelung mal dafür gedacht, dass Studenten und Schüler sich was dazuverdienen können. Die Änderung kann man als Versuch deuten, die Lohnkosten niedriger zu halten.
Wie sähe eine faire Arbeit für die Erntehelfer aus?
PAGONAKIS Erstens müssten die Menschen krankenversichert werden. Die Bundesregierung müsste also eigentlich genau das Gegenteil von dem umsetzen, was sie mit der 102-Tage-Regelung macht. Besonders in der Pandemie ist das ganz wichtig. Was passiert, wenn diese Menschen schnell erkranken, wenn sie an Long Covid leiden? Das steht jetzt an vorderster Stelle. Zweitens
muss man auf den Feldern mehr anlasslos kontrollieren. Das passiert schon, aber noch nicht oft genug. Nur wenn man in die Höfe geht, kann man sehen, ob die Abstandsregeln eingehalten und Masken getragen werden.
Sie beraten schon lange Erntehelfer – was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Spargel oder Erdbeeren kaufen?
PAGONAKIS (schweigt einige Sekunden) Die Arbeit hat mich sehr sensibilisiert. Ich sehe, was hinter dem Produkt steht, frage mich bei niedrigen Preisen, wie sie zustandekommen. Deswegen kaufe ich häufig mit einem schlechten Gefühl ein. Aber es geht mir nicht darum, uns den Appetit zu verderben. Wir sollten lieber gemeinsam für eine Verbesserung für die Arbeiter kämpfen.