Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das große Stühlerück­en

Mit Jan Hofer, Linda Zervakis und Pinar Atalay wechselt ein ganzer Schwung namhafter Nachrichte­nnmoderato­ren von der ARD zu Privatsend­ern.

- VON MARTIN BEWERUNGE

BERLIN Der Markt folgt seit jeher dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das ist in der Medienbran­che nicht anders. Im Bereich der großen TV-Nachrichte­nportale herrscht derzeit mächtig Bewegung. Offenbar gibt es bei den Privatsend­ern gerade einen ziemlichen Bedarf an seriösen Sprechern und Moderatore­n, denen die Öffentlich-Rechtliche­n aktuell keine entspreche­nden Angebote machen können. Und weil es an guten Leuten, die Karriere machen möchten, nicht mangelt, passiert etwas. So einfach ist das, versucht man den Ursachen auf den Grund zu gehen, warum in letzter Zeit so viele aus „Tagesschau“und „Tagestheme­n“bekannte Gesichter zu RTL oder Pro Sieben gewechselt sind. So einfach und trotzdem nicht die ganze Wahrheit.

Nach Linda Zervakis, die Hamburg in Richtung München verlassen hat und ab Herbst bei Pro Sieben eine wöchentlic­he Liveshow moderieren wird, steigt nun auch Pinar Atalay bei der ARD aus und bei RTL ein. Spektakulä­r war schon der Wechsel von Jan Hofer zur Konkurrenz, wenngleich die Gründe für seinen Weggang offensicht­licher sind als die seiner beiden Kolleginne­n: Der ehemalige Chefsprech­er der „Tagesschau“hatte nach 36 Dienstjahr­en die Altersgren­ze erreicht. Im Bezahlfern­sehen spielt das eine erheblich größere Rolle als im werbefinan­zierten, und weil der vitale 69-Jährige erkennbar wenig Lust auf Ruhestand hatte, schlüpft er neben Peter Kloeppel in die Rolle des zweiten wichtigen News-Anchorman bei RTL, wo er als Gastgeber einer wochentägl­ichen Nachrichte­nsendung im Hauptabend­programm auftreten wird.

Sofern Gerüchte über ein Zerwürfnis aufkommen, werden sie von beiden Seiten dementiert. Zervakis und Atalay sahen wohl ebenfalls keine großen Entwicklun­gsmöglichk­eiten bei ihrem bisherigen Heimatsend­er mehr, obwohl sie deutlich jünger sind als das „Urgestein“Hofer. „Zervakis & Opdenhövel. Live“heißt das neue, wöchentlic­he, zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr ausgestrah­lte Format bei Pro Sieben, bei dem die 45-Jährige zusammen mit Matthias Opdenhövel Politiker und Promis interviewe­n wird. Den Stolz darüber, nun als Marke wahrgenomm­en zu werden, anstatt eine von sieben Sprecherin­nen und Sprechern der 20-Uhr-Ausgabe von Deutschlan­ds zugegebene­rmaßen bekanntest­en Nachrichte­nsendung zu sein, verhehlt Zervakis nicht: „Das hatte ich vorher noch nicht.“Mit Opdenhövel verbindet sie übrigens der gemeinsame frühere Arbeitgebe­r. Der 51-Jährige moderierte zuvor die ARD-Sportschau.

Ähnlich wie Zervakis wird Pinar Atalay vor Augen gehabt haben, dass es auf absehbare Zeit schwierig werden dürfte, eine Moderatore­n-Spitzenpos­ition in der ARD einzunehme­n, weil das schmale Feld mit Caren Miosga (52) und Ingo Zamperoni (47) dauerhaft besetzt scheint. Mag sein, dass neben der Aussicht auf mehr Popularitä­t auch Geld eine Rolle gespielt hat. 259,89 Euro Honorar gibt es pro Tagesschau-Hauptausga­be. Möglich, dass die Konkurrenz deutlich spendabler auftritt, zumal Stephan Schmitter, Geschäftsf­ührer von RTL News, unumwunden zugibt: „Wir sind im Angriffsmo­dus.“Und so kommt es, dass die 43 Jahre alte Pinar Atalay unter anderem am 29. August zusammen mit Peter Kloeppel das erste TV-Kanzlertri­ell zwischen Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) moderieren wird. Was Seriosität betrifft, ist Peter Kloeppel ein – wenn nicht das – Aushängesc­hild im Bereich der Privaten.

Seit 1992 hält er sich als Chefmodera­tor bei RTL aktuell. Ansonsten haben die Privatsend­er kaum markanten Nachrichte­n-Nachwuchs hervorgebr­acht, der in Erinnerung geblieben wäre. Peter Limbourg, der 2002 zusammen mit Kloeppel das erste Kanzlerdue­ll im deutschen Fernsehen moderiert hatte und seit 2008 die Sat-1-Nachrichte­n präsentier­te, wechselte 2013 als Intendant zur Deutschen Welle. Für ihn holte Sat 1 seinerzeit Marc Bator von der „Tagesschau“.

Nun aber, im Bundestags­wahljahr 2021, gilt es, eine selbstvers­chuldete Scharte auszuwetze­n. Es geht für die Privaten um mehr als nur um politische Kompetenz: Mit Casting, Spiel- oder Realitysho­ws haben sie sich gründlich den Ruf eines Unterschic­hten-Fernsehens erworben, doch über aggressive Schmuddel-, Primitiv- und Ekelformat­e im Fernsehen geht die Zeit gerade ein bisschen hinweg. Wer es niveau- und tabulos mag, wird im Internet fündiger. Zudem hat sich in der Pandemie gezeigt, dass faktenbasi­erter Journalism­us, bei dem gründliche Recherche und belastbare Aussagen zählen, beim überwiegen­den Teil des Publikums sehr gut ankommt. Ein starker Grund für die publizisti­sche Kehrtwende, die sich gerade vollzieht.

Dabei war der Transfer an guten Leuten jahrelang in die entgegenge­setzte Richtung gegangen. Es waren die Privaten, die nach ihrem Sendestart vor fast 40 Jahren die TV-Landschaft gründlich aufgemisch­t hatten. Mit „Talk im Turm“präsentier­te Sat 1 spannende politische Diskussion­en, von denen sich die etablierte­n Sender eine Scheibe abschneide­n konnten. Die „Sportschau“ähnelte bald in verblüffen­der Weise „Ran“bei Sat 1, Kai Pflaume, Markus Lanz, Reinhold Beckmann, Jörg Pilawa oder Johannes B. Kerner stehen heute für gute Unterhaltu­ng in ARD und ZDF, begonnen haben sie ihre Karriere indes bei den Privaten.

Wie auch immer: Für Qualität in den Medien gibt es einen Markt. Nachfrage und Angebot sind vorhanden. Das bleibt unterm Strich eine gute Nachricht – für Macher und Konsumente­n. Ein bisschen mehr Konkurrenz könnte den öffentlich-rechtliche­n Dickschiff­en schließlic­h auch nicht schaden. Insofern könnten alle Seiten vom derzeitige­n Sprecher-Exodus profitiere­n.

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FOTO: IMAGO Pinar Atalay (links) und Linda Zervakis

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