Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Künstliche Intelligenz und Präzisionsmedizin in der Kardiologie »JE PRÄZISER DIE DIAGNOSE IST, DESTO BESSER SIND DIE BEHANDLUNGSMÖGLICHKEITEN UND DAMIT AUCH DIE HEILUNGSCHANCEN
JÄHRLICH ERKRANKEN 40.000 MENSCHEN AN EINER KORONAREN HERZERKRANKUNG. NAHEZU JEDER ZWEITE TODESFALL IST EINER KARDIOLOGISCHEN ERKRANKUNG ZUZUORDNEN. EIN WICHTIGES THEMA, DASS HEUTE IM FOKUS UNSERES EXPERTEN UND SEINEN GÄSTEN STEHT.
Prof. Dr. Norbert Frey, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie am Universitätsklinikum Heidelberg, weiß als Leiter dieser Expertenrunde zu berichten, dass moderne Technologieentwicklungen dabei helfen können, die richtigen Behandlungsschritte frühzeitig einzuleiten, um schwerere Verläufe zu verhindern. Wearables, wie zum Beispiel die Smart Watches, die verbesserte Vernetzung der behandelnden Ärzte sowie die Digitalisierung von Gesundheitsdaten stehen dabei für ihn im Fokus. Doch was bedeutet das konkret? Im Rahmen einer Studie in den USA bei rund 400.000 Menschen konnte durch die regelmäßige Abnahme und Auswertung der EKGs über Smart Watches auftretendes Vorhofflimmern frühzeitig erkannt und durch blutverdünnende Medikamente behandelt werden. So konnte bei den betroffenen Probanden ein drohender und häufig auftretender Schlaganfall durch die verminderte Pumpleistung des Herzens vermieden werden.
Für Prof. Dr. Norbert Frey gibt es insgesamt drei Bereiche, die massive Fortschritte in der Kardiologie bedeuten: Das sind zum einen die Wearables, wie bereits erläutert, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Auswertung von Untersuchungsergebnissen sowie der Big Data-Bereich.
Der Kardiologe führte aus, dass die von KI-Systemen erstellten Auswertungen von MRT- bzw. Röntgenuntersuchungen oder auch Blutanalysen zu wesentlich präziseren Ergebnissen führen. Auch die Auslesung eines Elektrokardiogramms sei dank technischer Ausleseverfahren wesentlich präziser und tiefgreifender, als ein sehr erfahrener Kardiologe es jemals könne. „Wir als Ärzte wie auch die Patienten müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass eine Maschine besser sein kann als der Mensch. Aber die Vorteile liegen auf der Hand: Je präziser die Diagnose ist, desto besser sind die Behandlungsmöglichkeiten und damit auch die Heilungschancen.“Damit kam Prof. Frey zum Thema Big Data, was so viel bedeutet wie die Zusammenführung vieler valider Daten. Dabei handele es sich um genetische, stoffwechselbezogene und um Verlaufsdaten von Patienten. Intelligente Algorithmen können diese zusammenführen, auswerten und Schlüsse ziehen. Für die Menschen bedeute diese Technologie einen immensen Fortschritt, denn schon heute seien Experten mit Hilfe von KI in der Lage zu prognostizieren, wie schwer ein Krankheitsverlauf sein wird, welche Medikamente optimal wirken und in welcher Dosis diese verabreicht werden sollten. „Wir können auf Basis einer soliden Datenlage einen sogenannten digitalen Zwilling erstellt. Computerisiert testen wir die Wirkweise bestimmter Medikamente für den Patienten und können zeitnah entscheiden, ob zum Beispiel ein Herzschrittmacher die bessere Behandlungsoption ist. Auch die Platzierung der Schrittmachersonden lässt sich am virtuellen Zwilling testen“, berichtet Prof. Frey aus dem Uniklinik-Alltag.
Michael Byczkowski, Global Vice President und Head of Healthcare Industry bei SAP SE, bekräftigt die Sicht Professor Freys. Wearables sind nichts anderes als die Miniaturisierung professioneller Diagnosetools, jedoch mit erheblichen Vorteilen für den Patienten: Klassischerweise müssten Herzprobleme zunächst digital erfasst werden, bevor sie analysiert und Behandlungsschritte eingeleitet werden könnten. Doch ein klassisches 24-Stunden-EKG würde den Patienten von seiner täglichen Routine abhalten. Wer ginge schon komplett verkabelt zum Sport oder gar zum Schwimmen? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Herzstörung ausgerechnet in den drei Minuten aufträte, in denen der Arzt ein EKG schreibe, seien ebenfalls gering. „Der Diagnose-Prozess zieht sich darum unverhältnismäßig in die Länge“, erläutert der der ausgewiesene IT-Experte. „Mit Hilfe der Smart Watches kann der Patient jederzeit reagieren und uns ein Elektrokardiogramm zukommen lassen, welches aussagekräftig ist.“Michael Byczkowski geht in seinen Ausführungen noch weiter: „Veränderungen des Lebensstils oder der Medikamentierung kann der Patient eigenständig erfassen überprüfen.“
Big Data sei für SAP in vielen medizinischen Projekten gelebter Alltag. Es gelte, je fundierter die vorliegende Datenlage sei, desto besser die Ergebnisse von Analysen. Das beginne bei der Auswahl von Forschungsprojekten und ende nicht zuletzt bei dem Training von KI-Systemen.
Auch Dr. Stephan Brock, CEO, Chief Technology Officer and General Manager bei Molecular Health GmbH, liebt Daten. Sein Spezialgebiet ist die Blutanalyse. „Blut ist wie ein Buch. Wir können daraus alles über den Menschen lernen, Diagnosen stellen und Prognosen erstellen“, berichtet der Experte aus dem Laboralltag. Mit Hilfe moderner Technologien können wir das komplette Genom, sprich das Erbgut, entschlüsseln, das Epigenom, also die krankhaften Veränderungen des Genoms, auslesen und den Immunstatus auslesen“, berichtet Stephan Brock aus seinem Berufsalltag. Auch bei Molecular Health setze man auf KI-Systeme, um sinnvolle Diagnosen, Behandlungsansätze und Prognosen abzuleiten. Auch Dr. Brock bestätigt, wie bedeutsam eine gute Datenlage für die molekulare Diagnostik sei.
Prof. Frey ergänzt, dass die Genom-Analyse mittlerweile keine 1.000 Euro koste. Damit sei es ein Verfahren, welches kurz davor stehe, in den klinischen Alltag einzuziehen. Aus Kostensicht ein großer Vorteil für die Gesellschaft, denn Prävention sei immer besser als aufwendige Operationen und Behandlungsverläufe.
Die drei Experten des Forum Zukunftsmedizin wünschen sich mehr Engagement der Bevölkerung bei der Überlassung der Gesundheitsdaten. Prof. Frey dazu: „Deutschland hat einen hohen ethischen Anspruch im Umgang mit den Daten.“Doch die Weitergabe anonymisierter Daten gemäß der strengen Datenschutzlinien in Deutschland sollte und müsse forciert werden. Wie die Umfrage der Rheinischen Post bei 250.000 Lesern gezeigt habe, ist mehr als die Hälfte bereit, ihre genetischen Daten für eine verbesserte Gesundheit zu teilen. Zu klären sei das Wie.
Prof. Frey prognostiziert den Menschen eine verheißungsvolle Verbesserung in der Behandlung kardiologischer Erkrankungen, nebenwirkungsärmer, individualisierter und präziser.