Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Jung gegen Alt
Zu Recht drehte sich lange alles um den Schutz derer, die am betagtesten und verwundbarsten waren. Das muss sich mit dem Ende der Pandemie ändern, sonst droht ein Generationenkonflikt. Was junge Menschen jetzt brauchen.
Wieder und wieder ist es dasselbe Thema, um das viele Fragen kreisen, wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit dem Robert-Koch-Institut sein wöchentliches Pandemie-Update gibt. In der Bundespressekonferenz heißt es dann: Herr Spahn, was ist denn jetzt mit den jungen Menschen? Herr Spahn, wie steht es um die Studierenden? Herr Spahn, und die Lockerungen im Vergnügungsbereich? Herr Spahn zeigt dann durchaus Verständnis, im Grunde für alle Seiten. Konkrete Antworten hat er oft nicht.
Es wurde viel geschrieben über die „Generation Corona“, die Schüler und Studenten, die Verlorenen und Vergessenen, die Wut der jungen Menschen. Eine Weltkrise trifft immer alle, aber nie alle gleich hart. Zuerst die Ältesten, rein körperlich. Jetzt die Jüngeren, vor allem psychisch. Kinderund Jugendärzte sprechen von psychiatrischen Erkrankungen in einem Ausmaß, wie sie es noch nie erlebt hätten. Junge Patienten mit Depressionen, Ängsten, Essstörungen füllen die Kliniken – und das sind nur die diagnostizierten, greifbaren Nöte.
Was fehlt, ist viel umfassender, essenzieller, alltäglicher: Gestaltungsspielraum, Wahlmöglichkeiten, Freiheit. Die tödliche Seuche hat die moderne Welt der unbegrenzten Möglichkeiten umgekehrt in einen kleinen Kosmos der Ohnmachtserfahrungen. Und Spahn hat natürlich recht, wenn er wie jüngst mit Blick auf die sinkenden Zahlen darauf hinweist, dass das Bedürfnis, wieder rauszugehen, wieder etwas zu erleben, keine Frage des Alters ist. Mit Blick auf die Auswirkungen auf das gesamte Leben aber ist es gewiss ein Unterschied, in welchem Alter man etwas erlebt – oder eben gar nicht erst erleben kann.
Die Phase des Sturms und Drangs ist richtungweisend, oft lebensentscheidend auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Experten sehen ganze Entwicklungsstufen wegen der Pandemie versäumt. Analog zu Kindern, die sich auch außerhalb ihrer häuslichen und elterlichen Umgebung erleben müssen, brauchen Jugendliche und junge Erwachsene Gelegenheiten, ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren. So erklärt es die Psychologin Birgit Langebartels, Leiterin des Bereichs „Kids and Family Research“beim Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold. „Kontakte knüpfen, Freundschaften schließen, sich verlieben, mit seinen Gefühlen umgehen, auch mit Alkohol, Partys besuchen, ausgehen – all das sind wichtige Entwicklungsschritte junger Erwachsener“, sagt Langebartels. „Es geht dabei um existenzielle Fragen: Wer bin ich, wie komme ich an, wie will ich wirken? All das verhindert Corona.“
Langebartels spricht von der Generation Corona-Kokon. Das Abwarten und Aussitzen, die strengen Maßnahmen brächten die jungen Erwachsenen wegen finanzieller oder sozialer Probleme vermehrt zurück unter die elterlichen Fittiche – was bequem ist, aber auch abgeschirmt vom echten Leben.
Die Angst davor scheint präsent: Knapp die Hälfte aller 15- bis 30-Jährigen in Deutschland hat laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung Angst vor der Zukunft. 71 Prozent der 1700 Befragten befürchten, dass die Suche nach Ausbildungsund Praktikumsplätzen viel schwieriger geworden ist. 44 Prozent machen sich „richtig ernsthafte Sorgen“. Abiturienten und Studenten sind nur vermeintlich privilegiert: Auch ihnen könnte fehlende Erfahrung, ob durchs Kellnern im Café oder Praktikum im Betrieb, bei der Bewerbung um Jobs auf die Füße fallen. Es bleibt eine Corona-Lücke im Lebenslauf.
„Es geht um existenzielle Fragen: Wer bin ich, wie komme ich an, wie will ich wirken?“
Birgit Langebartels Psychologin
Drängender scheint der Verlust durch nicht nachgeholte Unterrichtsstunden, Ferien-Lerncamps oder Vorlesungen in echten Hörsälen, wie sie in Nordrhein-Westfalen nun wieder möglich sein sollen. Was die Generation Z jetzt braucht, sind Freiheiten und Möglichkeiten. Es geht in dieser Phase des Lebens nun mal mehr um das Suchen als um das Finden, ums Ausprobieren, Kennenlernen, Erfahrungensammeln. Der Vorschlag der Grünen, allen in der Pandemie 18 Jahre alt Gewordenen ein Interrailticket oder vergünstigte Konzerttickets zu schenken, ist daher ganz und gar nicht peinlich. Er trifft die Lebenswirklichkeit dieser Generation genau – selbst wenn er Wahlkampftaktik ist.
Ohnehin verlieren die meisten Parteien den Anschluss an die Jüngeren, auch weil die über 60-Jährigen in Deutschland noch immer den größten Wähleranteil ausmachen. Das ist aus Sicht der Jüngeren der Gipfel der Ungerechtigkeiten. Sie sind es schließlich, die über weite Strecken Rücksicht genommen haben, denen einzelne illegale Partys zum pauschalen Vorwurf gemacht wurden, die jetzt hinten anstehen bei den Öffnungen und der Verteilung des Impfstoffs. Sie fühlen sich zu Recht im Stich gelassen, übersehen, ungehört.
Dabei lief es kurz vor Corona noch so gut für sie: Die Klimaproteste nahmen Fahrt auf, auf die „Fridays for Future“-Demos gab es weltweit Resonanz. Die Generation Z ist es schließlich, die langfristig mit den ökologischen Folgen des Klimawandels umgehen muss – und nun zusätzlich mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Generation Z auch dieses Thema auf die Straßen tragen wird. Das Potenzial für den Generationenkonflikt wächst. Deshalb muss die Politik, aber auch die Gesellschaft ihren Fokus jetzt auf die Jüngeren richten – und wenn es nur darum geht, ihnen Vorzüge zu verschaffen. Sie nicht zu verurteilen. Freiräume zu lassen. Und die Jugend könnte die Chance nutzen, selbst politisch aktiv zu werden.