Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Mensch Baerbock
Pünktlich zur heißen Wahlkampfphase veröffentlicht die grüne Kanzlerkandidatin ein Buch. In „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“gibt die 40-Jährige manches Detail aus ihrem Leben preis.
BERLIN Die Kanzlerkandidatin mag es kurz und knapp. „Jetzt“heißt das Buch der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock. Erst im Untertitel folgt: „Wie wir unser Land erneuern“. Ihr Buch, das am 21. Juni erscheint, liest sich wie eine sehr ausführliche Antrittsrede. Auf 240 Seiten skizziert die Frau, die Kanzlerin werden will, ihre politischen Grundüberzeugungen, die Vorhaben im Falle einer Regierungsübernahme – garniert jeweils mit persönlichen Details und Erinnerungen.
Die Widmung zu Beginn der Lektüre geht an ihre Oma „und all die Generationen, die so viel erlitten, erkämpft und geleistet haben und auf deren Schultern wir heute stehen“. Baerbock betont im Vorwort: „Das, was uns heute stark macht, gründet sich auf dem politischen Willen, in schwierigen Zeiten des Umbruchs vorauszuschauen, sich neuen Realitäten zu stellen und konsequent zu handeln. Der Bereitschaft, sich zu erneuern, es besser zu machen. An solch einer historischen Wegscheide stehen wir heute wieder.“
Diese Zeitenwende will die 40-Jährige verkörpern. „Da steckt viel Persönliches drin“, sagt die Grünen-Vorsitzende über ihr Buch. Denn sie glaube, dass Politik nur aus innerer Überzeugung möglich sei, mit Blick auf die Lebenswirklichkeiten
der Menschen und als Teil ihres Alltags. Sie habe deutlich machen wollen, „was so sperrige Themen wie eine sozial-ökologische Marktwirtschaft konkret mit den Menschen in unserem Land zu tun haben“. Und mit ihr und ihren Erfahrungen.
Über den Bildungsweg ihrer Mutter sprach sie schon auf dem Grünen-Parteitag am vergangenen Wochenende. Die Mutter war in der Schule nach einem persönlichen Unglücksfall als lernschwach gebrandmarkt worden und kämpfte sich über die Realschule und eine Ausbildung zum Uni-Diplom nach oben. Daraus leitet Baerbock ab, dass jeder Mensch Anspruch auf
Förderung hat – auch wenn nicht immer alles gerade läuft. Brüche im Lebenslauf dürfen einen sozialen Aufstieg nicht verhindern, so ihr Credo.
Stark ist Baerbock in ihrem Werk, wenn sie ihre Erfahrungen als Mutter und „im Leben stehender“Mensch einbringt. Da ist sie authentisch, direkt und unverkrampft: „Meine Kinder wissen, wo mein Herz und mein Zuhause sind. Ohne Frage, weil mein Mann vieles zu Hause managt und seine Arbeitszeit reduziert hat“, beschreibt sie etwa den Familienalltag. Baerbock wohnt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Potsdam. In der Authentizität liegen möglicherweise ihre größten Vorteile, die sie beim Wähler punkten lassen.
Etwas länglich sind die Passagen, wenn Baerbock ausführlich über grüne Vorstellungen zum Gesundheitswesen, Verkehrsanbindungen, Europa, den handlungsfähigen Staat schreibt. Ihr Fazit: Die Grünen hätten es sich früher ziemlich einfach gemacht. „Die Parole von den ‚dreckigen Kohlekonzernen‘ kam auf jedem Parteitag gut an, bei den Beschäftigten in der Lausitz allerdings weniger“, merkt sie kritisch an.
Baerbock wird ihr Buch in dieser Woche persönlich vorstellen – ein Pressetermin mehr. Und ein weiterer Anlauf, den Rückenwind des Parteitags vom Wochenende mitzunehmen und die Anfangsfehler ihrer Kandidatur vergessen zu machen. Manche Stationen ihres beruflichen und politischen Werdegangs, deren unvollständige Darstellung ihr zuletzt so viel Ärger bescherte, werden zwar angerissen, ohne jedoch präzise Eckdaten zu nennen.
Warum sie die Kanzlerkandidatur mit all ihren Unwägbarkeiten auf sich nimmt, beantwortet sie im Vorwort ihres Buches: „Aber Zukunft passiert nicht einfach, sie ist kein Schicksal. Sie wird von Menschen gemacht, im Guten wie im Schlechten. Wir haben es in der Hand.“
Info Annalena Baerbock: Jetzt. Wie wir unser Land erneuern. Ullstein, 24 Euro.