Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Trump-Jahre verblassen

Der Nato-Gipfel in Brüssel ist nicht nur ein Neuanfang für das transatlan­tische Bündnis selbst, sondern auch für die zahlreiche­n neuen Aufgaben und Herausford­erungen.

- VON GREGOR MAYNTZ

BRÜSSEL Der lange blaue Teppich vor dem Nato-Hauptquart­ier ist eine Herausford­erung für den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Langsam nur kommt er an diesem Montag auf dem Stoff voran, geht schließlic­h an den wartenden Journalist­en ohne Antworten vorbei. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat die Strecke zuvor viel schneller genommen und ist rasch vorbeigehu­scht. Nun sitzt er mit Erdogan zusammen und versucht in intensiven bilaterale­n Treffen, neue Lösungen für die Syrienund die Libyen-Krise zu finden. Wegen Erdogans Alleingäng­en hatte Macron schon an der Nato gezweifelt. Doch der Gipfel jetzt ist Anlass für einen neuen Anlauf: Die Probleme, die über lange Monate hinweg pandemiebe­dingt in Videoschal­ten diskutiert wurden, können nun im persönlich­en Gespräch besser angegegang­en werden.

„Wie am ersten Tag zurück in der Schule, wenn man alle Freunde wiedersieh­t“, sagt der britische Premier Boris Johnson. Viele verstehen das nicht nur bezogen auf die Corona-Unterbrech­ung. Sondern als ein Wiederankn­üpfen an alte Zeiten, in denen die USA als Führungsma­cht fest zur Nato stand. Die größte Aufmerksam­keit gehört deshalb US-Präsident Joe Biden. Sein Vorgänger Donald Trump hatte es am selben Ort vier Jahre zuvor selbst auf wiederholt­e Nachfrage nicht fertiggebr­acht, die Beistandsg­arantie als zentrales Element der Allianz zu erneuern. Biden kommt nach der Begrüßung durch Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g bereits im dritten Satz darauf zu sprechen. Und auf Stoltenber­gs Hinweis, die Nato sei für Europa und für Amerika gut, fügt Biden ein „besonders gut für die USA“hinzu. Die Bilder der Ära Trump verblassen in Brüssel bei diesem Gipfel binnen Sekunden.

Im Innern des Nato-Hauptquart­iers sind bemerkensw­erte neue Töne zu registrier­en. Die Herausford­erungen um die Nato herum sind noch größer geworden. Auch Angela Merkel spult die Themen schon auf dem blauen Teppich mit gewohnter Klarheit ab. Sie freut sich als große Transatlan­tikerin und Anker der Allianz in stürmische­n Trump-Zeiten auf die Zusammenar­beit mit Biden, sie freut sich, bei ihrem letzten Nato-Gipfel im Amt persönlich dabei zu sein. Und sie freut sich, dass die Konzepte für eine neue Nato-Strategie auch mithilfe ihres früheren Verteidigu­ngsministe­rs Thomas de Maizière zustande gekommen sind.

Mit jedem neu eintreffen­den Staats- oder Regierungs­chef werden die Erwartunge­n größer. Der Gipfel wird zum Sammelbeck­en der Botschafte­n, die Biden für den Westen am Mittwoch beim Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin übermittel­n soll. Wahlweise soll er „klare“, wenn nicht „starke“Antworten

auf das Muster aggressive­n russischen Verhaltens geben. Die osteuropäi­schen Nato-Staaten stellen das an erste Stelle. Estlands Premiermin­isterin Kaja Kallas verbindet das Anliegen mit eigenen Eindrücken: Ihre Mutter sei mit sechs Monaten von Russen nach Sibirien deportiert worden. „Die Leute haben das nicht vergessen“, sagt sie zu der neuerliche­n Bedrohung aus Russland und dem militarisi­erten St. Petersburg in unmittelba­rer Nachbarsch­aft.

Auch Merkel spricht die Bedrohunge­n durch Russland und Belarus an, wo „Menschenre­chte mit Füßen getreten“würden. Die hybriden Herausford­erungen mit Cyberattac­ken würden immer größer, auch Deutschlan­d sei von russischen

Desinforma­tionskampa­gnen betroffen. Aber da ist auch China, das immer mehr aufrüste, bald die größte Marine der Welt habe und dessen Einfluss, wie Stoltenber­g warnt, immer näher an die Türen der Nato heranreich­e. „Gigantisch“nennt Johnson die Herausford­erung. Peking teile definitiv nicht die westlichen Werte, lautet die übereinsti­mmende Nato-Beurteilun­g. Deshalb kommt in die Abschlusse­rklärung die Feststellu­ng, es bei China mit einer „systemisch­en Herausford­erung“zu tun zu haben, durch die sich für das Bündnis politische, wirtschaft­liche und militärisc­he Fragen stellten.

Auch der Klimawande­l gehört in die künftige Nato-Strategie. Und dem Afghanista­n-Abzug und seinen Folgen wird eine Perspektiv­e hinzugeste­llt: Die finanziell­e und zivile Hilfe werde weitergehe­n. Merkel schildert, was gelungen ist – und was alles zu lernen war in den vergangene­n 20 Jahren am Hindukusch. Die Nato-Agenda 2030 soll nicht nur die Absprachen untereinan­der intensivie­ren, sie soll auch die Finanzieru­ng von Missionen im Nato-Interesse neu regeln. Beschließe­n will die Nato die neue Strategie beim nächstjähr­igen Gipfel. Bedenken kommen von den Ländern, die schon das 2014 ausgerufen­e Ziel erfüllen, zwei Prozent ihrer Wirtschaft­sleistung in die Verteidigu­ng zu investiere­n. Deutschlan­d ist noch weit davon entfernt.

 ?? FOTO: O. MATTHYS/AP ?? Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (l.) begrüßt Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g (r.) während einer Plenarsitz­ung in Brüssel. Am Tisch sitzen US-Präsident Joe Biden (M.) neben Großbritan­niens Premier Boris Johnson und dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan (v.).
FOTO: O. MATTHYS/AP Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (l.) begrüßt Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g (r.) während einer Plenarsitz­ung in Brüssel. Am Tisch sitzen US-Präsident Joe Biden (M.) neben Großbritan­niens Premier Boris Johnson und dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan (v.).

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