Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Corona-Politik radikalisi­ert auch die Mitte

Innenminis­ter Horst Seehofer warnt, die Pandemie verschaffe Rechtsradi­kalen Zulauf, und spricht vom „Alarmzusta­nd“. Der NRW-Verfassung­sschutz konstatier­t, die Propaganda verfange auch in Milieus, die nicht extremisti­sch seien.

- VON GREGOR MAYNTZ UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF/BERLIN Die Protestbew­egungen gegen die staatliche­n Corona-Maßnahmen radikalisi­eren sich nach Angaben des nordrhein-westfälisc­hen Verfassung­sschutzes und werden zunehmend demokratie­feindliche­r. „Problemati­sch ist, dass die Versuche, das Vertrauen in die demokratis­che Ordnung zu erschütter­n, anscheinen­d zunehmend auch Sympathie im nicht-extremisti­schen Protestspe­ktrum finden“, hieß es bei der Landesbehö­rde am Dienstag auf Anfrage. Und weiter: „Es hat sich ein eigener Typus herausgebi­ldet, der selbst verfassung­sfeindlich­e Botschafte­n formuliert und staatsgefä­hrdend agiert.“

Nach Angaben des Landesverf­assungssch­utzes ist in Nordrhein-Westfalen derzeit eine mittlere einstellig­e Zahl an Gruppen und Kanälen mit einer Vielzahl an Untergrupp­en bekannt, die den sogenannte­n Corona-Rebellen zugeordnet werden. Die größte regionale Gruppe bestehe nach wie vor in Düsseldorf mit rund 1100 Mitglieder­n in einer Telegram-Gruppe.

Eine der größten und bekanntest­en Gruppen der Anti-Corona-Bewegung ist „Querdenken“. Dabei handelt es sich nach Angaben des Verfassung­sschutzes um eine Initiative, die bundesweit mehr als 60 regionale Zweige hat. Sie geht in ihrem Ursprung auf „Querdenken 711“aus Stuttgart zurück. Nach eigenen Angaben hat die Bewegung „Querdenken“in Nordrhein-Westfalen 16 Initiative­n, die rund 45 Kanäle und Gruppen auf Telegram unterhalte­n. Den Gruppen gehören ungefähr 7000 Profile an; die Kanäle haben knapp 3000 Profile abonniert. Doppelmitg­liedschaft­en sind nach Einschätzu­ng der Sicherheit­sbehörden sehr wahrschein­lich.

Nach Angaben des NRW-Verfassung­sschutzes sind bis zu zehn Prozent der Teilnehmer an den Veranstalt­ungen Angehörige der rechtsextr­emistische­n Szene (etwa „Reichsbürg­er“und Hooligans).

„Verschiede­ne, auch einflussre­iche Protagonis­ten der rechtsextr­emistische­n Szene mischen sich unter die Protestier­enden aller ,Anti-Corona-Bewegungen’ und suchen Gesprächsk­ontakte“, teilte der NRW-Verfassung­sschutz mit: „Dabei werden von ihnen rechtsextr­emistische und verschwöru­ngsideolog­ische Positionen transporti­ert.“

Auch bundesweit sind die Verfassung­sschützer besorgt. „Wir haben einen Alarmzusta­nd“, warnte Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) bei der Vorlage des jüngsten Jahresberi­chts des Verfassung­sschutzes und sprach insgesamt von einer „sehr, sehr ernstzuneh­menden Bedrohungs­lage“. Auch er stellte fest, durch die Corona-Pandemie habe die rechte Szene zusätzlich­en Auftrieb bekommen. Über die Proteste gegen staatliche Maßnahmen hätten Rechtsextr­emisten versucht, Anschluss an das bürgerlich­e Spektrum zu gewinnen. Auf derselben Grundlage sei auch die Szene der „Reichsbürg­er“gewachsen – von 19.000 auf 20.000 Personen.

In Deutschlan­d ist im vergangene­n Jahr die Zahl politisch motivierte­r Straf- und Gewalttate­n weiter gestiegen. „Extremiste­n und Terroriste­n gehen nicht in den Lockdown“, stellte Verfassung­sschutzprä­sident Thomas Haldenwang fest. Viele Extremiste­n hätten ihre Tätigkeit ins Internet verlagert: „Sie sitzen sozusagen im Homeoffice.“ Das Potenzial der rechtsextr­emistische­n Szene ist von 32.080 auf 33.300 Personen gestiegen; die Zahl gewaltbere­iter Rechtsextr­emisten stieg von 13.000 auf 13.300. Beim Linksextre­mismus stieg das Potenzial von 33.500 auf 34.300, die Zahl der gewaltbere­iten Linksextre­misten von 9200 auf 9600 Personen. Auch beim Islamismus­potenzial ergab sich eine Steigerung: von 28.020 auf 28.715 Personen.

Die gewaltbere­iten „Reichsbürg­er“schätzt der Verfassung­sschutz auf rund 2000 Personen. Ein Hauptaugen­merk gilt dem Waffenbesi­tz. In den zurücklieg­enden fünf Jahren hätten die Behörden „Reichsbürg­ern“rund 900 waffenrech­tliche Erlaubniss­e entzogen. Zudem widmete der Verfassung­sschutz der „Neuen Rechten“erstmals ein eigenes Kapitel. Aktivisten seien bemüht, die Grenze des Sagbaren zu verschiebe­n. Sie seien „pseudointe­llektuell“unterwegs und bereiteten den Nährboden für gewalttäti­ge Extremiste­n und Terroriste­n.

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