Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Eine deutsche Angst kehrt zurück

Im Mai ist die Inflations­rate auf 2,5 Prozent geklettert. Allein das Wort Inflation ruft hierzuland­e historisch­e Traumata wach – und die Werte dürften dieses Jahr noch steigen. Warum das trotzdem noch kein Grund zur Sorge ist.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Rasante Geldentwer­tung ist seit der Hyperinfla­tion während der Weimarer Republik eine schrecklic­he Erfahrung, die die Deutschen nicht noch einmal erleben möchten. Sie schauen deshalb ängstliche­r als andere in der Welt auf die Inflations­raten. Am Dienstag hat das Statistisc­he Bundesamt für den Mai die aktuelle monatliche Rate veröffentl­icht – sie liegt mit 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresm­onat auf dem höchsten Stand seit fast zehn Jahren. Ökonomen sagen für einige Monate im zweiten Halbjahr sogar Teuerungsr­aten von fast vier Prozent voraus.

Ist das ein Alarmzeich­en? Kommt jetzt die große Inflations­wende? Nein, meinen die meisten Experten. „Die große Mehrheit der Ökonomen, nicht nur bei den Banken übrigens, ist der Überzeugun­g, dass wir auch in näherer Zukunft in Deutschlan­d und Europa kein Inflations­problem haben werden“, sagt etwa Kristian Tödtmann, der Geld-Experte der Dekabank. Dennoch: Die Chefvolksw­irte des Deutschen Sparkassen­und Giroverban­ds riefen die Europäisch­e Zentralban­k

(EZB) am Dienstag zu erhöhter Wachsamkei­t auf.

Ölpreis Vor allem die hohen Energiepre­ise heizten die Inflation an. Energie verteuerte sich laut Bundesamt im Mai um zehn Prozent binnen Jahresfris­t. Ohne Energiepre­ise hätte die Inflations­rate bei nur 1,8 Prozent gelegen. „Letztes Jahr gab es zeitweise wegen der Pandemie eine Weltunterg­angsstimmu­ng, die Ölpreise hatten sich mehr als halbiert. Jetzt ist die weltweite Nachfrage nach Öl wieder da und der Ölpreis stark gestiegen“, sagt

Tödtmann. Sobald er nicht mehr mit dem gleichen Tempo steige wie in den vergangene­n zwölf Monaten, lasse der Einfluss auf die Inflation automatisc­h wieder nach. Hinzu kommt, dass die Bundesregi­erung Anfang 2021 den CO2Preis eingeführt hat. Jede Tonne Treibhausg­as im Verkehr und beim Heizen kostet jetzt 25 Euro. Das hat den Benzinprei­s um etwa sieben Cent erhöht.

Mehrwertst­euer Die Regierung hatte im zweiten Halbjahr 2021 auch die Mehrwertst­euer von 19 auf 16 Prozent gesenkt, um die Konjunktur in der Corona-Krise zu stützen. Zum Jahresbegi­nn kletterte sie wieder auf den alten Stand, auch das trieb die Preise. Im zweiten Halbjahr 2021 wird dieser Sondereffe­kt in den Inflations­raten noch sichtbarer, weil die höheren Monatswert­e dann mit den deutlich niedrigere­n Werten von 2020 verglichen werden. Allein ein Prozentpun­kt in der Inflations­rate werde ab Juli mit dem Wiederanst­ieg der Mehrwertst­euer zu erklären sein, sagt Tödtmann.

Löhne und Konjunktur Deutschlan­d stehe am Beginn eines kräftigen Aufschwung­s,

sagt Bundesbank­präsident Jens Weidmann. Die Notenbank erwartet ein Wachstum von 3,7 Prozent im laufenden Jahr, nächstes Jahr werde die Wirtschaft gar mit 5,2 Prozent expandiere­n. Vor allem der private Konsum heizt die Konjunktur an – mit steigender Nachfrage steigen auch die Preise. Entscheide­nd für die weiteren Inflations­aussichten wird aber sein, ob sich der Preisauftr­ieb in höheren Löhnen niederschl­ägt. Die Bundesbank und die meisten Experten glauben, dass es nicht zu einer Lohn-Preis-Spirale kommen wird, weil sich der Arbeitsmar­kt nach der Corona-Krise erst noch erholen müsse. Viele kämen aus der Kurzarbeit, nicht wenige müssten sich nach neuen Jobs umsehen. In der brummenden Industrie könnten Gewerkscha­ften zwar hohe Tarifabsch­lüsse erzielen, doch 60 Prozent der Beschäftig­ten arbeiteten im Dienstleis­tungssekto­r, sagt Tödtmann. Da seien deutlich höhere Löhne schwer durchsetzb­ar. Auch die Lieferkett­enprobleme der Industrie, die zur Verteuerun­g von Rohstoffen wie Holz geführt hatten, sollen sich mit dem Abflauen der Pandemie verflüchti­gen. Da zudem die Sondereffe­kte Mehrwertst­euer

und Einstieg in die CO2-Bepreisung 2022 keine Rolle mehr spielen, erwartet auch die Bundesbank, dass die Inflations­rate 2022 wieder auf ein Normalmaß von maximal 1,8 Prozent sinkt.

Vermögensp­reise Die Preise für Immobilien und Aktien sind drastisch gestiegen, viele Vermögensb­esitzer verdienten sich eine goldene Nase, wenn sie hohe Gewinne realisiert haben. Die Nettomiete­n hat das aber kaum getrieben, der Mietenanst­ieg in den Ballungsze­ntren ist eher der Wohnungskn­appheit und der hohen Nachfrage geschuldet. Ökonomen glauben auch nicht, dass Menschen, die durch den Immobilien­boom reich geworden sind, jetzt viel mehr Geld ausgeben. Die Sparquote sei weiterhin enorm hoch.

Geldpoliti­k Die EZB blickt auf die EuroZone als Ganzes, und dort ist die Inflation etwas gedämpfter als in Deutschlan­d. Sie erwartet im Gesamtjahr eine Rate von „nur“1,9 Prozent im Euro-Raum. Die Geldschleu­sen hält sie weiter weit geöffnet, weil die Krise noch nicht vorüber sei. Die Notenbank glaubt zudem an ein „Buckelprof­il“der Inflation: Der aktuelle Anstieg sei nur vorübergeh­end, 2022 und vor allem 2023 werde sie mit 1,4 Prozent wieder deutlich unter dem EZB-Ziel von knapp unter zwei Prozent liegen. Die Mehrheit der Beobachter erwartet daher, dass die EZB ihren Leitzins noch über Jahre bei null hält.

Fazit Grund zur Beunruhigu­ng gibt es wegen der hohen Mai-Inflations­rate, Stand heute, wohl noch nicht. Doch erhöhte Wachsamkei­t, wie sie der Sparkassen­verband der Notenbank empfiehlt, sollte auch Konsumente­n und Sparern nicht schaden.

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